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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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gehört zu mir, und ich bin daran gewöhnt. Ich werde ihn weiter allein ertragen.«
    »Aber warum wollen Sie Ihre Tochter dann finden?«
    »Ich möchte sie in die Arme schließen. Ich möchte, dass die kleine Xinxin, die ich in Erinnerung habe, zu einer erwachsenen Tochter wird. Ich hab mich immerzu nach ihr gesehnt und mir Sorgen um sie gemacht, deshalb wäre es ein ungeheurer Trost für mich, sie mit eigenen Augen zu sehen und sie in den Armen zu halten. Ich möchte sie als unbeschwerte Erwachsene sehen. Ich wäre sogar froh, wenn ich hören könnte, wie meine chinesische Tochter fließend Englisch spricht. Und ich würde ihr gern das Oberteil mit meiner Hälfte der drei Schriftzeichen geben, damit sie weiß, wie sehr ihre chinesische Mutter sie geliebt hat …«
    Tränen liefen Na übers Gesicht und tropften in ihre Kaffeetasse. Meine auch. Die Tränen von zwei Chinesinnen vermischten sich mit westlichem Kaffee.
     
    Als ich den ersten Entwurf für dieses Kapitel schrieb, sprach ich mit meinem Mann Toby Eady über Nas Geschichte. Er hat seinen biologischen Vater, der im Zweiten Weltkrieg starb, nie kennengelernt. Ich fragte ihn, wann er seinen Vater zum ersten Mal vermisst hatte. Er sagte, zu Beginn der Pubertät, als er anfing, eigene Entscheidungen zu treffen, und sich fragte, wie seine Zukunft aussehen würde. In dieser Phase hätte er sich gern an seinen Vater gewandt. Der Drang war extrem stark und hatte zur Folge, dass er emotional zwischen seinem Adoptivvater und seinem biologischen Vater hin und her schwankte. Aber er konnte seinen Adoptivvater nicht ablehnen, weil die Liebe seiner Adoptivfamilie ihn zu dem gemacht hat, der er heute ist. Ich fand diese Sichtweise absolut nachvollziehbar. Er hatte recht. Keiner von uns kann sich seine biologischen Eltern aussuchen, aber Adoptiveltern adoptieren den Leib und die Seele eines Kindes. Es wird Teil von zwei Familien, in jeder Hinsicht. Und dennoch weiß ich, dass Na in das Gesicht jedes sechs- bis siebenjährigen chinesischen Mädchens in New York blickt und sich fragt …
     
    Als ich zurück in London war, erhielt ich eine E-Mail von Na, in der sie mir mitteilte, dass die Rote Mary, die Frau, die uns beide zusammengeführt hatte, Ende November 2007 plötzlich und unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben war. Mit ihrem Tod erledigten sich meine Pläne, doch noch einmal mit ihr zu sprechen und mehr über ihre Geschichte zu erfahren. Aber in gewisser Weise hatte Mary mir bereits die Geschichten vieler, vieler Chinesinnen hinterlassen. Ruhe in Frieden, Mary! Ich werde tun, was ich kann, um diesen chinesischen Mädchen von deinem Leben zu erzählen und ihnen zu vermitteln, dass du sie wie eine Mutter geliebt hast, obwohl du deine eigene nie kennengelernt hast.

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    8
    Eine Moralgeschichte für unsere Zeit
    Was ist denn Natur? Was ist Mutterliebe? … Waren Sie schon mal in diesen Dörfern? Haben Sie gesehen, wie erbärmlich es den Mädchen dort ergeht? Sie überleben überhaupt nur mit viel Glück!
     
    E nde der 1980 er Jahre, als ich anfing, als Radiomoderatorin zu arbeiten, war es schwierig, Interviewpartnern zu entlocken, was sie wirklich empfinden. Manche hatten zu viel Angst, für ihre Äußerungen bestraft zu werden, andere wussten überhaupt nicht, was sie sagen sollten, weil ihnen bis dahin noch nie jemand zugehört hatte. Wieder andere redeten zwar, aber nur ganz allgemein und unverbindlich, und waren nicht bereit, über ihre Gefühle zu sprechen, weil sie nie gelernt hatten, diese zu verstehen. Ich war mit meiner Weisheit am Ende, denn schließlich war ich in derselben Gesellschaft aufgewachsen wie meine Hörer. Eines Tages machte ich für meinen Sohn Panpan gefüllte rote Paprika und bekam dabei irgendwie einen Paprikakern ins Gesicht. Da ich es nicht bemerkt hatte, blieb er dort kleben, bis ich mit dem Bus zur Arbeit fuhr. Eine Mitfahrerin zeigte auf mein Gesicht und sagte: »Sie haben da was im Gesicht.« Ich dankte ihr, wischte den Kern weg, und wir gerieten ins Plaudern. Diese Frau war die erste, die mir die Geschichte ihres Lebens erzählte.
    Am selben Abend dachte ich lange und gründlich darüber nach, was passiert war, und schließlich wurde mir klar, dass ich die Detailliebe der Frauen als Schlüssel zu ihrer emotionalen Welt nutzen konnte. Von da an schminkte ich mich stets mit Absicht ein wenig achtloser als sonst. Jeder noch so kleine Makel ließ sich in ein wirklich nützliches Instrument verwandeln: Wenn eine Frau mich dann

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