Wolkentöchter
Jangtsekiang begrenzt wird, Menschen für mein Buch
Gerettete Worte
interviewte, sah ich in den Bergdörfern im Westen viele Familien mit fünf oder mehr Kindern. (Es gab Ausnahmen für ethnische Minderheiten.) Selbst im Osten Chinas waren ländliche Familien mit drei oder mehr Kindern an der Tagesordnung. Nicht alle Chinesen zwischen zwanzig und dreißig Jahren sind Einzelkinder; es gibt auch viele mit etlichen Geschwistern.
Dagegen wurde und wird die Ein-Kind-Politik in den urbanen Regionen Ostchinas drakonisch durchgesetzt. (Allerdings gab die Stadtregierung von Shanghai im Juli 2009 eine offizielle Lockerung bekannt, die dort schon in den letzten Jahren praktiziert worden war. Aus Sorge um die Ausgewogenheit der Bevölkerungsstruktur – ausgelöst durch sinkende Geburtenzahlen bei den gebildeten Schichten und die generelle Überalterung der Einwohnerschaft – hat man angefangen, in gewissen Teilen der Bevölkerung die Geburt von Zweitkindern zu unterstützen.) Bis zum Beginn der 1990 er Jahre lebte fast jeder innerhalb der staatlichen Planwirtschaft. Wer mehr als ein Kind bekam, verlor seinen Arbeitsplatz, die Wohnung (die vom Arbeitgeber zugeteilt wurde), die Bezugsscheine für Lebensmittel und Kleidung, das Recht des Kindes auf schulische Ausbildung und medizinische Versorgung, ja sogar die Chance, neue Arbeit zu finden, weil kein Arbeitgeber es wagte, ihn einzustellen. Wenn jemand ein Kind »zu viel« hatte, verloren er und seine Familie absolut alles. In gebildeten Kreisen waren nur sehr wenige gewillt, das Risiko einzugehen, ihre Lebenspläne auf diese Weise zu ruinieren. Das hielt die Menschen jedoch nicht davon ab, jedes erdenkliche Mittel einzusetzen, von modernster Medizintechnik bis hin zu traditioneller chinesischer Pflanzenheilkunde, um die Geburt eines Sohnes zu bewirken. Meiner Ansicht nach erklärt das bis zu einem gewissen Grad das Ungleichgewicht der Geschlechter in manchen Gebieten Chinas.
Im Zuge meiner Arbeit habe ich über Jahre hinweg Menschen interviewt und dabei noch einen weiteren einfachen, aber überaus wichtigen Grund dafür entdeckt, warum Babys verstoßen werden: die Kombination aus sexueller Unaufgeklärtheit und sexueller Freiheit in der jungen Bevölkerung.
Blickt man zurück auf das erste Jahrzehnt wirtschaftlicher Reformen, so wird deutlich, dass das Jahr 1992 für die urbane Bevölkerung Chinas einen Wendepunkt markierte. Bis dahin waren Städter unbeteiligte Zuschauer gewesen. Viele betrachteten die Reformen lediglich als eine weitere politische Bewegung von vielen. Mit Herablassung reagierten sie auf die Migranten vom Land, die wie verrückt schufteten, um sich aus tiefster Armut nach oben zu arbeiten; und für die ehemaligen arbeitslosen Landarbeiter, die inzwischen in den Städten als kleine Händler ihr Auskommen gefunden hatten, brachten sie nur Verachtung auf. » 10 000 -Yuan-im-Jahr-Familie« war eine abfällige Bezeichnung für ungebildete Menschen, die durch ihre Risikofreude zu Geld gekommen waren. Die Gebildeten waren da vorsichtiger. Sie brauchten ein ganzes Jahrzehnt, um zu der Einsicht zu gelangen, dass sie ihren ganzen Mut aufbringen und die Gelegenheiten beim Schopf packen mussten, die ihnen die Reformen boten. Schon bald erlebten Hochschulen und Universitäten einen gewaltigen Andrang von Studenten. Wirtschaftlicher Erfolg kam ebenso in Mode wie alles Westliche. Was die Studenten anging, so fanden die Reformen ihre scheinbar dramatischste Ausprägung in den »verwestlichten« Beziehungen zwischen den Geschlechtern – plötzlich schliefen wesentlich mehr junge unverheiratete Leute miteinander.
Eine Freundin von mir, die ihn China lebt, beklagte sich neulich am Telefon darüber, dass sie nicht mehr wisse, welche gesellschaftlichen Regeln noch gelten und was moralisches Verhalten eigentlich heißt. »In unserer Jugendzeit«, sagte sie, »hätte man es noch nicht mal gewagt, mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts unter vier Augen zu reden. Unsere Eltern hätten sich niemals vor den Kindern geküsst oder umarmt. Aber heute wechselt meine neunzehnjährige Tochter alle paar Monate den Freund und bleibt oft die ganze Nacht weg. Sie nennt das sexuelle Freiheit und Selbstbestimmung. Ich finde mich nicht mehr zurecht. Gibt es denn überhaupt noch irgendwelche gesellschaftlichen Normen?«
Ich werde mich an dieser Stelle nicht mit der Frage beschäftigen, welche gesellschaftlichen Normen wir achten sollten. Es wäre ignorant und anmaßend, die ganze
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