Wolkentöchter
gleich, was passiert. Ich habe keine Angst davor, kritisiert oder isoliert zu werden, ich habe keine Angst vor Entbehrungen, Entlassung, Verhaftung oder gar dem Tod.« Am 3 . Januar 1960 wurde er gezwungen, von seinem Posten als Präsident der Universität Beijing zurückzutreten, um kurz darauf seiner Pflichten im Ständigen Ausschuss des Volkskongresses entbunden zu werden. Er durfte nicht mehr publizieren, sich öffentlich äußern, Presseinterviews geben oder ausländische Besucher empfangen, selbst dann nicht, wenn es sich um Freunde handelte. Für seine Missetaten wurde er außerdem unter Hausarrest gestellt.
Nach dem Sturz der Viererbande wurde Ma Yinchu erneut zum Präsidenten der Universität Beijing ernannt. Er starb kurz vor seinem 100 . Geburtstag am 14 . Mai 1982 . Bereits in den frühen 1950 er Jahren hatte er darauf hingewiesen, dass die Bevölkerung des Landes viel zu schnell wuchs. Auf seine Anregung hin veranlasste die chinesische Regierung zu Beginn des Jahres 1953 eine erste demografische Erhebung. Die Ergebnisse wurden am 1 . November desselben Jahres veröffentlicht: Am 1 . Juni 1953 um Mitternacht zählte die chinesische Bevölkerung 600 Millionen Menschen. Somit war die Bevölkerung in gerade mal vier Jahren seit Gründung der Volksrepublik China um 100 Millionen Menschen gewachsen. Professor Ma stellte in seiner Vergleichsstudie
Neue Bevölkerungstheorie
fest, dass die in der Erhebung von 1953 festgestellte jährliche Bevölkerungszuwachsrate von 20 Prozent vielleicht sogar noch überschritten worden war. Seiner Ansicht nach bedeutete die langsame Entwicklung der Produktionstechnologie in Verbindung mit dem explosionsartigen Bevölkerungswachstum und den damit einhergehenden sozialen Konflikten, dass China nicht in der Lage war, mit der Entwicklung der globalen Wirtschaft und Zivilisation Schritt zu halten. Mas Gedanken standen im diametralen Gegensatz zu denen Maos, aber die Geschichte gab Ma recht: Die Bevölkerung wuchs weiter – von 700 Millionen im Jahr 1966 auf 1 , 2 Milliarden im Jahr 1979 –, während sich die Bereiche Bildung und Wirtschaft deutlich langsamer entwickelten als in den Industrieländern. Noch heute erinnern sich die meisten Städter über fünfundvierzig an die begehrten Bezugsscheine für Öl, Fleisch, Getreide und Kleidung. Ich erinnere mich noch gut, wie ich einmal von fünf Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags bei Schnee und eisigen Temperaturen in einer Warteschlange stand, um ein viertel Kilo Schweinefleisch für meinen Lehrer zu kaufen. Das war die Ration für das Neujahrsessen der gesamten Familie! Auf dem Land wuchs die Bevölkerung weiter. Die immer schmaler werdenden Wege zwischen den einzelnen Feldern legten beredtes Zeugnis davon ab, dass selbst den kleinsten Ackerstreifen noch Nahrung abgerungen werden musste. Um es deutlich zu sagen, die Wirtschaft stagnierte, und die von der Politik auferlegte Kontrolle des Bevölkerungswachstums versprach nur eine kleine Erholung im täglichen Überlebenskampf eines Volkes, das ein Jahrhundert voller Kriege und politischer Umwälzungen durchlitten hatte und Tag für Tag gegen die Armut ankämpfte.
Millionen von Familien sahen es jedoch weiterhin als ihre gottgegebene Pflicht an, einen männlichen Erben hervorzubringen, um den Fortbestand der Sippe zu sichern. Es galt sogar als Sünde, keinen Sohn zu gebären. Als dann in den 1980 er Jahren wirklich die »Ära der Familienplanung« anbrach, zahlten diese Menschen einen hohen Preis. Ganze Familien wurden ruiniert, ihre Häuser zerstört, und Menschen starben durch die Hände von Dorfkadern, die die Familienplanungspolitik grausam und brutal durchsetzten. Vor allem ungebildete Bauernfamilien kämpften erbittert gegen die Gemeindeverwaltungen um die Chance, einen Sohn bekommen zu dürfen.
Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das ich schon an anderer Stelle zitiert habe. Es lautet: »Der Himmel ist weit, und der Kaiser ist fern«, was so viel bedeutet wie: Je weiter man sich vom Zentrum der Macht entfernt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass lokale Normen und Gebräuche schwerer wiegen als die Verordnungen aus der Hauptstadt. Mit einem Staatsgebiet von 9 600 000 Quadratkilometern ist China ein riesiges Land, mit Regionen, in denen die Ein-Kind-Politk nie erfolgreich durchgesetzt werden konnte. In den entlegenen Gebirgsregionen Westchinas ist sie nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Als ich 2006 in dem Gebiet, das durch den Gelben Fluss und den
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