Wolkentöchter
Welt nach einheitlichen Normen zu bewerten. Aber ich möchte mich mit jenen jungen Menschen beschäftigen, mit der Generation, der auch die Tochter meiner Freundin angehört und die in den 1990 er Jahren aufwuchs. Diese jungen Menschen erlebten den jähen Übergang von einer Gesellschaft, in der tradierte moralische Normen herrschten, zu einer Gesellschaft, die die westliche Sexualmoral adaptierte. Das Problem war, dass viele noch nie etwas von sexueller Aufklärung oder Beratung gehört hatten: Sie lebten ein »sexfreies« Leben innerhalb ihrer Familien, an den Schulen und in der Gesellschaft. Die Verbindung dieser Faktoren – sexuelle Ahnungslosigkeit, das Fehlen von Sexualerziehung und die verlogene Einstellung der älteren Generation in Fragen der Sexualität – führte dazu, dass diese jungen Menschen völlig unvorbereitet mit der westlichen sexuellen Freiheit und einem neuen Hedonismus konfrontiert wurden, und zwar mit katastrophalen Folgen. Viele jungen Frauen wussten nichts von Verhütung, geschweige denn, wie Babys entstehen. Das Geschäft mit Abtreibungen boomte, und die Vororte von Großstädten wurden mit Angeboten für derlei Dienste regelrecht zuplakatiert. Fast keine Studentin, die ungewollt schwanger wurde, behielt ihr Baby. Chinesische Familien stritten sich um die Jungen, aber kleine Mädchen landeten unweigerlich in Waisenhäusern. Wahrscheinlich ist das einer der Gründe für den dramatischen Anstieg der Zahl neugeborener Mädchen in chinesischen Waisenhäusern seit 1990 und auch für die ab 1992 wirksame Regierungsmaßnahme, die Auslandsadoptionen erlaubte. Während ich im Zuge meiner Arbeit die kulturellen Bedürfnisse von adoptierten chinesischen Kindern untersuchte, erfuhr ich auch einiges über die Adoptionsgesetze. Das Adoptionsgesetz der Volksrepublik China wurde auf der 23 . Versammlung des Ständigen Ausschusses des Siebten Nationalen Volkskongresses am 29 . Dezember 1991 verabschiedet und trat am 1 . April 1992 in Kraft. Am 4 . November 1998 wurde es auf der 5 . Versammlung des Ständigen Ausschusses des Neunten Nationalen Volkskongresses abgeändert (siehe Anhang B). Schließlich unterzeichnete China das Haager Übereinkommen vom 29 . Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption (Haager Adoptionsübereinkommen).
Natürlich werden Neugeborene auch noch aus anderen Gründen verstoßen, die sogar noch verstörender und entsetzlicher sind. So kann beispielsweise eine Wahrsagerin prophezeit haben, dass der Familie dadurch zukünftiger Kummer erspart bleibt. Es gibt auch einen Volksglauben, demzufolge das Töten eines Neugeborenen Naturkatastrophen abwendet. Und in vielen Volksgruppen hält sich die von Gemeindeältesten überlieferte Vorstellung, dass Babys ausgesetzt werden dürfen.
In diesem Buch habe ich tragische Geschichten gesammelt über das Schicksal, das verstoßene weibliche Neugeborene traditionell erleiden mussten und noch immer erleiden müssen. Die Werkzeuge zur Durchsetzung dieser Traditionen wurden aus Überlebensnot geschmiedet und über Jahrhunderte hinweg von Müttern verfeinert – dabei sind die Opfer selbst Frauen und Mädchen. Im Jahr 2004 habe ich in Großbritannien eine Stiftung gegründet, die sich The Mothers’ Bridge of Love ( MBL ) nennt. Ihre drei Hauptziele sind: chinesischen Kindern, die überall auf der Welt leben, kulturelle Ressourcen zur Verfügung zu stellen; Kinder zu fördern, die von westlichen Familien adoptiert wurden und somit ein zweifaches kulturelles Erbe haben; und vor allem, behinderten Kindern zu helfen, die vergessen in chinesischen Waisenhäusern dahinvegetieren.
Anhang A:
Weitere Briefe von Adoptivmüttern
Sehr geehrte Xinran,
danke für Ihr Schreiben. Verzeihen Sie, dass ich Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehme, wo Sie doch sicher noch unter Jetlag leiden. Ich dachte nur, Sie sollten von dieser Website und dem Blog wissen.
Ich glaube wirklich, dass ein Buch über die leiblichen Mütter sehr wichtig für Adoptivfamilien wäre und auch für die leiblichen Mütter, mit denen Sie gesprochen haben. Adoptivfamilien müssen wissen, wie unendlich schwer es vielen leiblichen Müttern gefallen ist, sich von ihren Kindern zu trennen. Es mögen schmerzliche Geschichten sein, aber sie gehören trotzdem zum Lebenshintergrund unserer Töchter.
Eigentlich bin von meiner Ausbildung her Spezialistin für die Geschichte der Ming-Dynastie, aber ich habe für meine zwei Töchter einige
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