Woodstock '69 - die Legende
einzustürzen. Die auf einem Gerüst errichtete Bühne selbst sah so aus, als würde sie im nächsten Augenblick in den Matsch sinken.« 91 »Das brachte die Leute dazu miteinander zu interagieren«, bemerkt Richie Havens. »Der Regen sorgte dafür, dass wir teilen mussten, was wir hatten â eine Plane, um sie über den Kopf zu ziehen, die Regenjacke oder was auch immer â, es waren die Naturgewalten, die eine groÃe Rolle spielten bei dem, was hier passierte.« 92 So sieht es auch Paul Williams. »Der Regen brachte Transzendenz. In Ermangelung von Unterschlupfen setzte man sich zu Fremden ins Zelt oder Auto, und wenn man es finden konnte, sogar ins eigene. Im Prinzip wurde man einfach nass und lernte, damit klar zu kommen. Die Kinder Amerikas, ohne Regenhäute, versagten sich jeder Vernunft, gingen nicht heim, sondern setzten sich dem Regen aus. Sie machten die Erfahrung, dass sie nicht aus Zucker sind, denn sie schmolzen nicht dahin!« 93
The Incredible String Band indessen scheint genau dies zu befürchten, sieht sich nicht in der Lage zu spielen und ist bedeutend genug, um eine Verlegung ihres Auftritts auf den Samstagnachmittag durchzusetzen. Vielleicht der gröÃte Fehler ihrer Karriere. An ihrer Stelle betritt nun die 22-jährige, eher jünger aussehende Melanie, mit Nachnamen Safka, die Bühne und liefert ein Glanzstück selbstpropagandistischer Effizienz. Sie spielt nur die beiden Songs »Birthday Of The Sun« und »Beautiful People«, aber die Menge frisst ihr aus der Hand, weil man ihr auf sympathische Weise anzuhören meint, wie beeindruckt sie selber ist von der Situation. Man könnte einwenden, dass diese Rolle zu ihrem auch bei anderen Gelegenheiten gepflegten Image gehört: Sie gibt das scheue Teenager-Rehkitz, das sich gerade zaghaft in ein Blumenmädchen transformiert, man kann als Zuschauer gewissermaÃen an dieser Metamorphose teilnehmen â ein suggestives Identifikationsangebot für die junge Zielgruppe. Aber dieser Auftritt ist doch mehr als gute Imagepflege, ihr Fingerpicking ist steif, eckig, die Stimme leicht verwackelt â in Woodstock scheint die Rolle wirklich einmal ihrer emotionalen Verfassung zu entsprechen. Abgesehen davon skizziert ihr Song »Beautiful People« â der so optimistisch die Verschmelzung aller schönen Menschen zu einem noch schöneren, nämlich sich um das Individuum kümmernden Kollektiv besingt â einmal mehr die Utopie, die sich hier vor Ort schon längst zu verwirklichen scheint. Das zeitigt an diesem Wochenende die stärksten Reaktionen: wenn der Musiker auf der Bühne illuminiert, was davor passiert. Zudem verliert Melanie trotz der Aufregung nicht ihr situatives Gespür. Sie passt den Song den unmittelbaren Bedingungen an, geringfügig nur, aber das reicht als Affektverstärkung völlig aus.
âCause thereâll always be someone
With the same button on as you
.
Include him in everything you do
,
He may be sitting right next to you
,
He may be a beautiful wet people, too
Von »nassen« Menschen ist im ursprünglichen Text natürlich noch nicht die Rede. Man kann also auch knietief im Matsch versinken und doch schön sein. Wer hätte das je bezweifelt? Nun, die Betroffenen hören es trotzdem ganz gern. Hier regt sich auch schon Beifall, der wird allerdings zurückgedrängt von der sich nun hebenden, ihre Dringlichkeit steigernden Stimme. Finale!
And if you take care of him
,
Well, then maybe heâll take care of you
.
âCause, all of the beautiful people doinâ
,
Iâm a beautiful wet people, too
.
Diese wohlkalkulierte Solidaritätsadresse verfehlt ihre Wirkung nicht. Woodstock trägt Melanie Safka auf Händen. Den Schlussvers beendet sie auch hier, wie sie es für gewöhnlich tut, mit einer schüchternen, beinahe verschämten Andeutung eines Lachens, so als sei es eigentlich anmaÃend, sich selbst den »beautiful people« zu subsumieren. Sonst ist das bloÃe Koketterie, denn dass sie ein schöner Mensch ist, sieht man ja. Hier stimmt auch das auf einmal, denn sie sitzt nun mal im Trockenen.
Bei »Birthday Of The Sun« wirkt sie schon sicherer, aber das Stück ist auch lauter, forcierter, spieltechnisch weniger komplex. Gut gewählt ist es ebenfalls, weil es in doppelter Weise, ganz konkret und im übertragenen Sinn, anspielt auf die gegenwärtigen Verhältnisse.
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