Woodstock '69 - die Legende
der Nacht, immer noch regnet es, kommt der Headliner auf die Bühne â und John Morrisâ Stimme klingt beinahe zärtlich, als er Joan Baez ankündigt. Sie ist das politische Gewissen, die vielbeschworene »Jeanne dâArc« der Gegenkultur, der sie sich mit der praktischen Kurzhaarfrisur der werdenden Mutter auch optisch anzunähern scheint. Baez ackert bereits das ganze Jahrzehnt hindurch für die gute moralische Sache â und verschafft damit so ganz nebenbei ihren eigenen Platten ein hübsch reputierliches, immens verkaufsträchtiges Adelspatent â, für mehr Bürgerrechte, Emanzipation der Schwarzen und selbstredend für die Einstellung des Vietnam-Kriegs. Sie teilt dem Finanzamt mit, dass sie nicht gewillt sei, die 60 Prozent Einkommensteuer zu bezahlen, die ihren Berechnungen zufolge in den Verteidigungshaushalt flieÃen, und gründet im kalifornischen Carmel Valley unter enormem Protest der Anwohner ein Institut für Studien zur Gewaltfreiheit. »Es liegt ihnen viel daran, âºeinander mit Schönheit und Zärtlichkeit zu begegnen⹠«, schreibt die klarsichtige Joan Didion, die Baez dort besucht hat, »und sie begegnen einander so zärtlich, dass ein Nachmittag an dieser Schule gefährlich in Richtung einer Traumwelt driftet.« 95
Schon im August 1963 beim »Marsch auf Washington« ist sie dabei, dem sich auch Marlon Brando, ein noch unbekannter Bob Dylan und weitere 250.000 bürgerrechtsbewegte Menschen anschlieÃen, um John F. Kennedys Gesetzesvorlage für eine allgemeine Gleichberechtigung der Schwarzen zu unterstützen, und singt auf demselben Podium »We Shall Overcome«, auf dem Martin Luther King seine »I have a Dream«-Rede hält. Im September 1964 stärkt sie den Studenten des »Free Speech Movement« in Berkeley musikalisch den Rücken, als diese Sproul Hall, das Verwaltungsgebäude der Universität, besetzen und in einen Sitzstreik treten. Die Studenten demonstrieren gegen die Repressionen der Universitätsleitung, die versucht hat, linke Agitation auf dem Campus zu unterbinden und einige der studentischen Aktivisten von der Hochschule zu relegieren. Knapp 400 Polizisten brauchen zwölf Stunden, um 800 Studenten aus dem Gebäude zu tragen und in Gewahrsam zu nehmen. Die gröÃte Massenverhaftung in der Geschichte Kaliforniens, die nun auch zurückhaltendere Kommilitonen mobilisiert. Die Folge ist ein Unterrichtsstreik, dem sich etwa die Hälfte der Studierenden anschlieÃt und der die Hochschuldirektion zum Umdenken zwingt. »Die einzige Autorität, die es noch auf dem Campus gab, war das Free Speech Movement«, bramarbasiert Jerry Rubin wie gewohnt, 96 aber ganz falsch ist das auch nicht. Es setzt Straffreiheit für die Festgenommen, die Absetzung des bisherigen Hochschul-Präsidenten durch und lässt sich die weitgehende Erlaubnis politischer Aktivitäten auf dem Unigelände garantieren. Ein wichtiger, symbolträchtiger Sieg der »New Left« und für Rubin der eigentliche Inaugurationsakt der Bewegung: »So begann in den Schulen und den StraÃen der Kampf der weiÃen Mittelstandsjugend gegen Amerika.« 97 Joan Baez verschafft dieser kleinen Revolte landesweite Ãffentlichkeit, indem sie sich mit ihrer Gitarre vor die Studenten stellt und neben Dylans »The Times They Are A-Changin« einmal mehr auch Pete Seegers Protest-Gebet »We Shall Overcome« anstimmt.
Fünf Jahre später, in Woodstock, singt sie es immer noch, diesmal zum Abschluss ihres Auftritts. Baez ist einfach schon zu lange im Agitprop-Geschäft â kein Wunder, dass ihr Feuer nicht mehr so hoch lodert, dass sich schon zu viele Textbausteine und professionelle Kniffe eingeschlichen haben, dass ihre gesamte Vorstellung hier, soweit man sie in den beiden Film-Dokumentation nacherleben kann, etwas zu abgeklärt, routiniert gerät. Aber sie nimmt ihre Aufgabe unverändert ernst. Der Headliner-Auftritt reicht ihr denn auch nicht, sie stellt sich überdies bei der kleinen freien Bühne an. »Ich kann mich erinnern, dass Joan Baez gute zwei Stunden im Regen warten musste«, berichtet Wavy Gravy, »da sie niemand erkannte. Sie hatte sich die Haare kurz geschnitten und sah aus wie eine Zahnarzttochter. Aber sie hat Stil und sie wartet.« 98
Vielleicht ist es die deutlich sichtbare Schwangerschaft, die ihr ein bisschen die agitatorische Ãberzeugungskraft
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