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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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vertreiben – ihrem Vater übers Hemd.
    Das war Harmanus’ Ende. Mit einem erstaunlichen Satz, der ihn volle fünf Sekunden in der Luft schweben ließ wie eine Marionette, fuhr er von seinem Strohlager hoch, dann brach er, ohne auch nur einmal aufzujaulen, durch die neuen Fensterläden und rannte in den Wald, taumelte blindlings von Baumstamm zu Baumstamm, während ihm die ganze Familie hinterherjagte. Sie fanden ihn zwischen den zerklüfteten Felsen unterhalb der Van Wart Ridge, am Fuße eines jähen Abhangs von fünfzig Metern. Jeremias hatte Schwierigkeiten mit der Chronologie der Ereignisse jenes Jahres, aber soweit er sich erinnern konnte, war es etwa einen Monat danach, als das Haus vom Blitz getroffen wurde und bis auf die Grundmauern niederbrannte, samt seiner Mutter und Wouter. Am Tag darauf verschrieb Katrinchee ihre Seele den Höllenfeuern, indem sie mit dem Heiden Mohonk nach Indian Point durchbrannte.
    Im November, als die Pacht fällig wurde, kam Van Warts Verwalter vom unteren Gutshaus in Croton hinaufgeritten, die Satteltasche hinter sich prall gefüllt mit den Rechnungsbüchern. Bei den Van Brunts hatte er mit Ärger gerechnet – sie waren sowohl mit dem Brennholz als auch mit den Ernteerträgen im Rückstand –, aber als er das Ende der Fuhrwerkspur, die zu der Farm führte, erreicht hatte, fielen ihm die Augen aus dem Kopf. Wo einst das Blockhaus gestanden hatte, war nur noch Asche. Das Korn war auf dem Feld verdorrt, von den ersten Winterstürmen plattgedrückt und in jämmerlichen Klumpen am Boden angefroren. Was das Vieh anging, so war nichts von ihm zu sehen: die herumfliegenden Federbüschel legten Zeugnis über das Schicksal des Geflügels ab, der Ochse und die Kühe waren verschwunden. Nun besaß der Verwalter viel Erfahrung, er war ein gewissenhafter Mann mit breitem Hinterteil und dickem Bauch. Obwohl er sich nichts lieber gewünscht hätte, als zurück zu Jan Pieterses Handelsposten zu galoppieren und dort mit einem Krug Lagerbier vor dem Feuer zu sitzen, trieb er dennoch seinem Pferd die Sporen in die kalten Flanken und trabte vorwärts, um die Lage näher zu begutachten.
    Er umrundete die Weißeiche im vorderen Hof, stieß neben dem halbfertigen Zaun auf einen rostigen Pflug, spähte in den Brunnen hinab. Gerade als er aufgeben wollte, bemerkte er die Rauchfahne, die aus dem dichten Wald vor ihm aufstieg. Nach einer kurzen Pause, um seine Pfeife neu zu entzünden und den Hintern auf dem eiskalten Sattel hin und her zu reiben, überquerte Van Warts Verwalter die Lichtung und tauchte in das winterlich kahle Unterholz ein. Als erstes sah er den Ochsen, oder vielmehr, was davon übrig war: an den Knochen angefrorenes Fell, Augen, Ohren und Lippen völlig weggehackt von den Aasfressern des Waldes. Dahinter einen primitiven Unterstand. »Hallo!« rief er. Niemand antwortete.
    Dann sah er den Jungen. Eingewickelt in Lumpen und schüttere Felle, auf einer Kuhhaut im Schatten des Unterstands kauernd. Der Junge beobachtete ihn.
    Der Verwalter lenkte sein Pferd auf ihn zu und räusperte sich. »Van Brunt?« fragte er.
    Jeremias nickte. Die Temperatur lag um minus zehn Grad, der Wind wehte aus Nordwesten, von Kanada herunter. Er zog das gesunde Bein an den Körper. Das andere, das in einem Holzpflock endete wie das des rauflustigen Pieter Stuyvesant, lag ungeschützt da, unempfindlich gegen die Kälte. Er sah schweigend zu, wie sich der fette Mann über ihm im Sattel umdrehte, um hinter sich zu greifen und ein dickes, in Leder gebundenes Buch hervorzuziehen. Der Fettsack blätterte das Buch durch, markierte eine Stelle mit seinem Pfeifenstiel und blickte auf ihn hinunter. »Für Nutzung und Gewinn auf diesem Stück Land des Gutsherrn Oloffe Stephanus Van Wart, dem es unter dem Van-Wartwyck-Patent angehört, seid Ihr nunmehr zwei Klafter Brennholz, zwei Scheffel Weizen, zwei Hennen und zwei Hähne, zwanzig Pfund Butter und fünfhundert Gulden der jährlichen Pacht schuldig. Hinzu kommt eine Sonderzahlung von fünfundsiebzig Gulden für einen widerrechtlich angeeigneten Eber.«
    Jeremias antwortete nicht. Er beugte sich vor, um die Kohlen im Feuer zu schüren, wobei ihm der Rauch in die Augen stieg. Der dicke Mann trug Schuhe mit silbernen Schnallen, ein Beinkleid aus Flanell, einen Pelzmantel und Ohrenschützer aus Kaninchenfell unter dem spitzen Hut. »Van Brunt, habt Ihr mich verstanden?« fragte der Verwalter.
    Ein langer Augenblick verstrich, der winterliche Wald war still wie ein Grab.

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