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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Patient darf wirklich nicht –«
    Langsam und feindselig drehte sich Mardi, gletscherkalte Augen und unbezähmbare Haare, zu ihr um. »Halt’s Maul!« knurrte sie, und die Schwester wich vor ihr zurück. Dann wandte sie sich wieder Walter zu. »Und du nenn mich nicht noch mal Miststück«, sagte sie mit leiser, kehliger Stimme, »du, du Wunderknabe ohne Füße.«
    Diesmal lachte Joey tatsächlich – ganz unverkennbar: ein hohes, unverschämt schallendes Gelächter, das mittendrin abbrach. Und dann machte er Walter blitzartig das Friedenszeichen und folgte Mardis Cape zur Tür hinaus. Aber damit war die Sache nicht beendet. In der Tür blieb er stehen, um Walter über die Schulter ein sehr effektvolles Augenzwinkern zuzuwerfen. »Bis dann, Alter«, sagte er.
    Damit war Walters Maß voll. Er stieß die Schwester beiseite und setzte sich kerzengerade auf, die Adern an seinem Hals schwollen vor Zorn purpurrot an. Er begann zu brüllen. Flüche, Verwünschungen, Schimpfwörter aus dem Kindergarten – was ihm gerade in den Kopf kam. Er brüllte wie ein Muttersöhnchen mit blutender Nase auf dem Spielplatz, schrie alle Fotzen und Arschlöcher und Schweinepriester und Drecksäue heraus, die er aufbringen konnte, heulte seine Wut und seine Ohnmacht hinaus, bis die Gänge der Station davon widerhallten wie der Aufenthaltsraum eines Irrenhauses, und er kreischte und schimpfte und faselte so lange, bis ihn die groben Arme der Pfleger in die Kissen preßten und die Spritze ihren Weg in die Vene fand.
    Als er aufwachte – am nächsten Tag? am übernächsten? –, fiel ihm als erstes auf, daß jemand in dem zweiten Bett lag. Es war mit Vorhängen abgeschirmt, aber er konnte den Ständer des Venentropfs oben hervorragen sehen, und am Fußende des Betts teilten sich die Stoffbahnen, weil dort ein Gipsbein herausragte, das über dem frisch gewaschenen Weiß des Lakens schwebte. Er sah scharf hin, als könnte er irgendwie die Vorhänge durchdringen; er war neugierig, wie jeder bettlägerige Patient, der gerade aufwachte – was gab es schon für Abwechslung außer Essen, Huysterkark und Fernsehen? –, und zugleich auf perverse Weise befriedigt: jemand anders litt ebenfalls.
    Erst beim Mittagessen – die Suppe schmeckte wie Soße, die Soße wie Suppe, dazu gab es acht nahezu unverdauliche Wachsbohnen, einen Klumpen undefinierbarer, fleischähnlicher Substanz und Wackelpudding, den ubiquitären Wackelpudding – zog die Krankenschwester die Vorhänge zurück, so daß er einen Blick auf den Zimmergenossen und Leidensgefährten werfen konnte. Anfangs sah er ihn in dem Wirrwarr von Kissen und Bettdecken nicht, da ihm die Sicht zudem durch das massige Hinterteil von Schwester Rosenschweig verstellt war, die sich über den Neuankömmling beugte, um dessen Nahrungsbedürfnisse zu stillen – gütiger Gott, hatte der etwa die Arme auch noch verloren? –, dann aber, als die Schwester sich aufrichtete, bekam er seinen Kameraden in der Not endlich richtig zu Gesicht. Ein Kind. Winzig und schrumplig, in dem gigantischen Bett wirkte es wie ein ausgestopftes Spielzeug.
    Dann sah er genauer hin.
    Er sah zwei bleiche kleine Hände mit behaarten Knöcheln hektisch herumwirbeln, Messer und Gabel blitzten auf, und dann, bevor ihm neuerlich der Glutaeus maximus von Schwester Rosenschweig die Sicht nahm, fiel sein Blick kurz auf einen patriarchisch weißen Haarschopf. Merkwürdiges Kind, dachte er und kratzte geistesabwesend den engen Verband an der Wade, als die Krankenschwester plötzlich verschwunden war und er mit offenem Mund in das Gesicht aus seinen Alpträumen starrte.
    Piet – denn Piet war es unzweifelhaft, unvergeßlich, so augenfällig und widerwärtig wie eine festgebissene Zecke an einem Hundeohr – lehnte halb aufgesetzt im Bett und spießte vergnügt Stückchen des smaragdgrün glitzernden Wackelpuddings auf die Zinken seiner Gabel. Seine Nase und seine Ohren wirkten riesig, standen in absurdem Mißverhältnis zu seinen verkürzten Gliedmaßen, weiße Haare sprossen aus seinen Nasenlöchern wie erfrorenes Unkraut, seine Lippen waren schlaff und zum Schmollmund verzogen, vom Kinn tropfte Soße. Volle fünf Sekunden donnerten vorbei, ehe er das Schweigen brach. »Schönen Tag auch, Meister«, sagte er mit diabolischem Grinsen, »ganz gut, der Fraß hier, was?«
    Walter hatte sich in einem Kabinett des Schreckens verirrt, in einem Raum ohne Ausgang, im dunklen, tropfnassen Kellerverlies eines Irrenhauses. Er hatte Angst. Todesangst.

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