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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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einzigen Fuß – und begriff, daß er nicht mehr Teil von ihm war. Das Bild der öden Traumlandschaft verschmolz in diesem Moment mit dem grinsenden Gesicht seines Vaters.
    »Soso, soso«, sagte Huysterkark, rieb sich die Hände und grinste, grinste. »Mr. Van Brunt – Walter Van Brunt. Tja.« Zwischen dem rechten Arm und seiner Brust hielt er, fest eingeklemmt, als wäre es ein zusammengerolltes Exemplar der Times , die neue Fußprothese. »Tja«, wiederholte Huysterkark strahlend, griff sich einen Stuhl und schleifte ihn zum Bett, »und wie geht es uns heute bei diesem schönen Schneegestöber da draußen?«
    Wie es uns ging? Diese Frage ließ sich unmöglich beantworten. Wir hatten panische Angst, wir rangen mit Verzweiflung und Fassungslosigkeit. Wir waren wütend. »Sie, Sie –« sprudelte Walter hervor. »Sie haben meinen, meinen einzigen –« Er fühlte sich überwältigt von Selbstmitleid und Kummer. »Verdammt noch mal!« knurrte er mit Tränen in den Augen. »Sie konnten ihn nicht retten? Haben Sie’s nicht mal versucht?«
    Die Frage hing zwischen ihnen in der Luft. Vor den Fenstern tobte der Schneesturm. Dr. Rotifer in die Notaufnahme, Dr. Rotifer bitte , krächzte die Lautsprecheranlage.
    »Sie haben enormes Glück gehabt«, sagte Huysterkark schließlich, nickte heftig und legte den Zeigefinger nachdenklich an die blassen Lippen. Er zog den Fuß unter dem Arm hervor und senkte die Stimme. »Enormes Glück«, flüsterte er.
    Wie Huysterkark ihn informierte, war Walter zwei Tage lang bewußtlos gewesen. Sie hatten ihn – halb erfroren – erst kurz vor Morgengrauen eingeliefert. Er konnte von Glück reden, daß er überhaupt noch lebte, daß ihm nicht auch noch Finger und Nase abgefroren waren. Hielt er denn das Krankenhauspersonal hier für inkompetent? Oder teilnahmslos? Er hatte ja keine Ahnung, wie verstümmelt dieser Fuß gewesen war – multiple Splitterfraktur, Sprunggelenk total zertrümmert, Bindegewebe zu Brei zerquetscht. Was wußte er schon davon, daß die Doktoren Yong, Ik und Perlmutter zweieinhalb Stunden lang im OP versucht hatten, seinen Kreislauf wiederherzustellen, die zermalmten Knochen zusammenzufügen, Blutgefäße und Nerven zu vernähen? Er konnte von Glück reden, daß er nicht irgendwo im Landesinneren oder am anderen Ufer des Hudson verunglückt war – oder angenommen, es wäre im Süden oder in Italien oder Nebraska passiert, oder in irgendeinem anderen gottverlassenen Nest, wo die Chirurgen nicht auf der Hopkins University ausgebildet worden waren wie Yong und Ik und Perlmutter? War ihm überhaupt klar, was für ein Glück er gehabt hatte?
    Walter war das nicht klar, nein, obwohl er sich Mühe gab. Obwohl er zuhörte, wie Huysterkarks Stimme die ganze Bandbreite des Ausdrucks durchmaß, vom sforzando der Einschüchterung über das allegro des Dankgebets bis zum geschäftigen, jovialen brio des geübten Vertreters. Er konnte nur an eines denken, nämlich wie unfair das alles war, diese unablässigen, lähmenden, grauenerregenden Attacken der Geschichte, der Vorsehung, eines ihn bewußt belauernden Schicksals – lauter Attacken, die alle auf ihn, und nur auf ihn zielten. Es brodelte in ihm, bis er die Augen schloß und Huysterkark mit ihm machen ließ, was er wollte; er schloß die Augen und sank zurück in seine Träume.
    Es war am Nachmittag des dritten Tages, als Mardi auftauchte. Sie hatte ihren Waschbärpelzmantel gegen ein schwarzes Samtcape getauscht, das ihre Schultern betonte und ansonsten wie ein Leichentuch herabhing. Darunter trug sie Bluejeans, bemalte Cowboystiefel und eine durchsichtige Bluse, rosa schimmernd wie der Broadway an einem regnerischen Abend. Und Perlen um den Hals. Acht bis zehn Ketten. Hinter ihr in der Tür stand ein Typ, den Walter noch nie gesehen hatte.
    Er war benommen von den Schmerztabletten, dem einschläfernden Muff des Zimmers; am bleiernen Himmel vor dem Fenster hingen wilde schwarze Wolkenbänder wie Gitterstäbe. »Du armes Ding«, gurrte sie, während sie klappernd über das Linoleum kam. Sie beugte sich in einer schweren Parfümwolke vor und fuhr ihm mit der Zunge flüchtig in den Mund. Er fühlte, wie der Strahlenkranz ihres Haars sein Gesicht umrahmte, wie Empfindungen mit feinen Tentakeln das stumpfe, töte Feld seines Schmerzes durchstießen, und wider Willen verspürte er ein schwaches Rühren der Erregung. Dann richtete sie sich wieder auf, öffnete die Schnalle ihres Capes und deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung

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