Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
ich’s gewußt.«
    Der eisige Hauch der Geschichte umwehte ihn von neuem – Walter konnte ihn spüren, so vertraut wie Zahnschmerzen, und er schauderte innerlich.
    »Klar«, sagte der Zwerg, der nun seine Züge zu einer obszönen Parodie von gutem Willen und Treuherzigkeit zurechtrückte. »Ich hab deinen Vater gekannt.«
    Jedesmal, wenn Walter im Laufe der folgenden drei Tage die Augen aufschlug, war Piet da, der Fixstern, um den sich das Zimmer, das Krankenhaus, das ganze Universum drehte, wichtigstes und einziges Objekt seines Interesses. Am Morgen weckte ihn der kleine Kerl mit einem gegrölten »Auf, auf, ihr müden Glieder!« Tagsüber erwachte er aus qualvollem Schlummer, während Piet sich gelassen die Fingernägel abknipste oder krachend in einen Apfel biß; er schreckte aus dem Dämmerzustand vor der Flimmerkiste auf und hatte Piet beim Blättern in einem Pornoheft vor Augen, der ihm mit komplizenhaftem Grinsen das Ausklappfoto in der Mitte hinhielt. Trotzdem fiel es Walter schwer zu glauben, daß er nicht halluzinierte – bis ihn dann Lola besuchen kam und den verschrumpelten Winzling auf Anhieb erkannte. »Piet?« sagte sie und kniff die Augen zusammen, um ihn genau zu mustern, so wie sie die schemenhaften Gestalten auf einem verblaßten Foto gemustert hätte.
    Der Zwerg reckte den Kopf wie ein Hund, der in der hintersten Ecke der Küche ein leises Klingen von Silberbesteck wahrgenommen hat. »Dich kenn ich doch«, sagte er, und seine dicken, ledernen Lippen verzogen sich zum originalgetreuen Faksimile eines Lächelns. »Lola, stimmt’s?«
    Lola fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Sie nestelte an ihrer Tasche und dem schweren Mantel, dann ließ sie sich in den Besucherstuhl fallen. Eine Verwandlung ging durch ihr Gesicht, ihr Mund wurde hart, ihre Lippen begannen zu zittern.
    »Wie lange ist das jetzt her?« fragte er. »Zwanzig Jahre?«
    Mit tonloser Stimme antwortete sie: »Nicht lange genug.«
    Piet fuhr fort, als hätte er sie nicht gehört, und informierte sie über die Wechselfälle seines Schicksals während der vergangenen zwei Jahrzehnte. Unter viel Schmunzeln, Blinzeln, Augenrollen und so heftigem Gestikulieren, daß die Haltedrähte seines Streckverbands erbebten, erzählte ihr der kleine Mann von seinen Karrieren als Zimmermann, in einem Kellertheater (Nebenrolle in einem kurzlebigen Musical nach Motiven aus Todd Brownings Film Freaks ), im kommerziellen Fischfang, als Inhaber einer Grill-Bar im Putnam Valley, beim Hausieren mit ofenwarmen Pfannkuchen und als Verkäufer von Renaults, VWs und Mini-Coopers auf einem Autoplatz in Brewster. Eine geschlagene Stunde lang plapperte er so dahin, johlte über seine eigenen Witze, senkte die Stimme zu einem ominösen Schnarren, um schwere Zeiten hervorzuheben, und glühte vor Leidenschaft, wenn er von seinen Liebschaften und Triumphen berichtete, und so ging es immer weiter, mit großen Gebärden, lautem Gelächter und Witzeleien führte er die große Symphonie seines kleinen Lebens auf, vor einem Publikum, das an seine Sitze gefesselt war. Den Namen Truman erwähnte er kein einziges Mal.
    Sobald Lola gegangen war, drehte sich Walter zu ihm um. Piet war nach seiner abenteuerlichen Litanei aufgeblasen wie eine Kröte und musterte ihn listig. »Du, äh, du sagtest doch, daß du meinen Vater gekannt hast«, begann Walter und zögerte dann.
    »Stimmt genau. Der war echt ’ne Marke, dein Alter.«
    Wann hast du ihn zum letztenmal gesehen? Was ist aus ihm geworden? Lebt er noch? In Walters Kopf kreisten die Fragen wie Jumbo-Jets über dem La Guardia Airport – Warum hat er uns verlassen? Was geschah in jener Nacht 1949? Hat er Schiß bekommen? War er ein Spitzel? Ein Überläufer? War er wirklich das wertlose, perfide, doppelzüngige, hinterhältige Dreckschwein, als das ihn alle hinstellen? Doch bevor er die erste davon stellen konnte, plauderte Piet wieder aus dem Schatzkästchen seiner Erinnerungen.
    »Echt ’ne Marke«, wiederholte er und schüttelte ungläubig den Kopf. »Kennst du die Geschichte mit –?« Walter kannte sie nicht. Und wenn doch, würde er sie eben noch einmal anhören müssen. Indem Piet wie ein Dirigent mit den Stummelarmen herumwedelte und dabei griente, Grimassen schnitt, gluckste und kicherte, tischte er ihm die alten Anekdoten auf. Zuerst die tollkühnen Streiche – wie er mit dem Fahrgestell nach oben unter der Bear Mountain Bridge hindurchgeflogen war, wie er aus der Krippe vor der Kirche Unserer Mutter der Unbefleckten

Weitere Kostenlose Bücher