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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Typen ins Gesicht, die vor zwanzig Jahren losgezogen waren, um ihm und Robeson den Saft abzudrehen.
    Reaktionäre Spießer. Das waren sie für Walter immer gewesen – dieses Urteil war ihm anerzogen worden –, heute aber, da er Dipe persönlich kannte, mit ihm zusammengearbeitet, in seinem Wohnzimmer gesessen, seinen Scotch getrunken und ihm seine Probleme anvertraut hatte, war ihm klar, daß es um wesentlich mehr ging, als er früher geglaubt hatte. Hesh und Lola und die Eltern seiner Mutter hatten ihm ihre Version aufgezwungen. War das nicht auch Propaganda? Hatten sie ihm etwa nicht nur die eine Seite der Geschichte erzählt? Sein Leben lang hatte er gehört, sein Vater sei ein übler Kerl, ein Spitzel und Verräter, ein kaputter Typ gewesen. Und in den Sowjets hatten sie sich auch getäuscht – und tief in ihren Herzen wußten sie das genau. Sie hatten die Parteilinie bejubelt, als wäre das so was wie die Zehn Gebote, aber Stalin hatte sich als fauler Apfel erwiesen, und was war daraus geworden? Freiheit? Menschenwürde? Das Paradies der Arbeiter? Rußland war ein Leichenschauhaus gewesen, ein Arbeitslager, und am schlimmsten hatte die Partei die Leute unterdrückt.
    Es waren leichtgläubige Menschen – Hesh, Lola, seine traurige, versponnene Mutter so wie schon ihre Eltern davor. Es waren Träumer, Reformer, Idealisten, die geborenen Mitläufer und Opfer. Sie hielten sich für die Beschützer der Schwachen und Unterdrückten, sie glaubten, sie könnten das Unrecht durch Händchenhalten, Liedersingen und Spruchbänderschwenken aus der Welt schaffen, dabei waren in Wirklichkeit sie selbst die Schwachen und Unterdrückten. Sie machten sich etwas vor. Sie hatten zuviel Seele, zuwenig Härte, sie waren nicht frei. Träumer waren sie. Wie Tom Crane. Wie Jessica. Er war auf dem Weg nach Alaska, und er würde seinen Vater dort aufspüren, und sein Vater würde ihm alles so erzählen, wie es gewesen war. Ein Verräter? Das glaubte Walter nicht. Nicht mehr jedenfalls.
    »Wir sind beide Gründungsmitglieder, weißt du?« sagte Jessica, während er durch sie hindurchsah. »Tom und ich. Tom gehört seit der Jungfernfahrt von Maine herunter zur Besatzung.«
    Er hatte es nicht gewußt. Aber er hätte es sich denken können. Natürlich, dachte er und verhärtete sich plötzlich, Jessica und Tom Crane, Tom Crane und Jessica. Die beiden, draußen auf dem Fluß, wie sie sich in der Koje scheinheilig aneinanderklammerten und oben an Deck ihre Plakate mit den Pharisäersprüchen schwenkten, Gesänge von Frieden und Liebe und Hoffnung anstimmten, und ewig das Gejammer um die Klammeraffen und die Sattelrobben, das einmalige Biotop von Angel Falls, die Ozonschicht und all die anderen beschissenen Hirnwichser-Projekte dieser Welt. Mit einem Mal stand er auf und schob den Stuhl zurück. »Hast du mir vorhin zugehört?« fragte er, und in seiner Stimme lag nicht mehr die geringste Spur von Humor, keine Demut, nicht einmal mehr Leidenschaft. »Als ich sagte, wieviel du mir bedeutest?«
    Sie senkte den Kopf. Im Ofen knackte es, ein Vogel schoß am Fenster vorbei. »Ich habe dir zugehört«, flüsterte sie.
    Er machte einen Schritt vor und griff nach ihr – nach ihren Schultern, nach ihrem Haar. Zu seiner Linken spürte er die Hitze des Ofens, durch das verschmierte Fenster sah er den tristen Wald, und gleich bei der ersten Berührung fühlte er seine Erregung. Sie saß leicht vorgeneigt da, vor dem Gewirr von Perlen, Gummibändern, Angelschnüren und Nähnadeln auf dem Tisch, und obwohl er sie an sich drückte, reagierte sie nicht. Er strich ihr übers Haar, doch sie wandte den Kopf und ließ die Arme schlaff herunterhängen. In diesem Moment spürte er das Beben, das tief in ihrem Innern begann, gegen den Zug der Schwerkraft wie eine Woge emporstieg und ihren Brustkorb zum Bersten erfüllte, bis es schließlich in einem Zittern ihrer Schultern verebbte: sie weinte.
    »Was ist denn los?« fragte er, und seine Stimme hätte sanft, zärtlich, besorgt sein sollen, aber sie war es nicht. Sie klang falsch in seinen Ohren, klang schroff und ungeduldig, klang wie ein Befehl.
    Sie schniefte, holte nach einem heftigen Schluchzer tief Atem. »Nein, Walter«, stieß sie hervor, sah ihn weiterhin nicht an, blieb schlaff wie eine Tote. »Ich kann nicht.«
    Seine Hände lagen jetzt auf ihrem Pullover, er preßte die Lippen auf ihren Scheitel. »Du bist meine Frau«, sagte er, »du liebst mich.« Oder nein, das war wohl nicht das Richtige. »Ich

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