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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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ein regelmäßiger Gast auf Nysen’s Roost, der zum Abendessen blieb, bei Tisch Jeremys Platz einnahm und manchmal sogar, wenn das Wetter schlecht oder die Gesellschaft zu anregend war, die Nacht dort verbrachte.
    Tja, die Gesellschaft. Auch wenn Vater Jeremias eine blasse Figur im Hintergrund blieb, ungreifbar wie ein wolkiger Schemen, Neeltje beständig mit Spinnen oder Kehren oder Aufwischen beschäftigt war und Wouters jüngere Geschwister, die den endlosen Winter hindurch ans Haus gefesselt waren, sich dauernd anfauchten, wie die Wilden zankten und herumzeterten, fand der junge Yankee-Naturfreund mit der langen Nase die Gesellschaft einfach unwiderstehlich. Doch ach, es war keineswegs Wouter, der ihm so naheging, obwohl er ihn gern mochte und fast bis zu seinem Tode als seinen besten Freund bezeichnen sollte – nein, es war Geesje. Die kleine Geesje. Den Namen hatte sie von der Großmutter, die unergründlichen Augen und die rebellische Natur von ihrer Mutter geerbt; als er zum erstenmal den Fuß durch die Tür setzte, war sie gerade zehn Jahre alt.
    Sie spielten Karten an jenen langen Winterabenden – Cadwallader hockte über seine Knie gebeugt wie eine zirpende Grille, Wouter legte einen verbissenen Ehrgeiz zu gewinnen an den Tag, der ihn manchmal selbst erstaunte, und Geesje saß mit untergeschlagenen Beinen da, versteckte ihr listiges Kindergesicht hinter den Karten, und ihr scheinbar sorgloses Spiel täuschte darüber hinweg, daß sie genauso ehrgeizig und verbissen war wie ihr Bruder. Sie liefen Schlittschuh auf dem Teich, in dem vor langer Zeit Jeremias seinen Fuß an die Sumpfschildkröte verloren hatte. Sie spielten Murmelrollen, Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst, Sackhüpfen, Pantoffeljagd und Ringewerfen, und der schlaksige, ungelenke Lehrerssohn ereiferte sich dabei ebenso wie die Kinder, mit denen er spielte. Als der zweite Winter herannahte, der Winter von Adriaen Van Warts Einzug und Jeremys Rückkehr, wurde Wouter allmählich klar, daß nicht mehr er der Grund für Cadwallader Cranes Besuche bei seiner Familie war.
    Falls Wouter deshalb enttäuscht war, so zeigte er es nicht. Er spielte genauso verbissen, folgte seinem langbeinigen Kameraden weiterhin durch Garten und Gehölz, Sümpfe und Brombeergestrüpp, bestaunte im Holzschuppen der Cranes wie früher versteinerte Pferdegebisse oder eine in Salzlake konservierte Seenadel. Doch innerlich kam es ihm vor, als wäre er hinterrücks gestoßen und neuerlich aus der Bahn geworfen worden, gerade als er begonnen hatte, langsam wieder Halt im Leben zu finden. Desorientiert und verunsichert, mit seinen dreizehn Jahren schon zum zweitenmal entwurzelt, öffnete er eines Nachts im bitterkalten Februar die Tür und sah dort seinen Vetter stehen, in Eisregen gehüllt, und in diesem einen gnadenvollen Augenblick fühlte er sich erlöst: Jeremy war wieder da.
    Aber die Erlösung kommt nicht auf so leichten Füßen.
    Noch während er ihn umarmte, noch während er den Namen des Vetters triumphierend ausrief und hinter sich die Familie aufwachen hörte, merkte er, daß etwas nicht stimmte. Es war nicht die Indianeraufmachung – das zerrupfte Bärenfell, die Kette mit seawant-Muscheln, der Wirbelstrang eines Fisches, den sein Vetter als Stirnband trug – und auch nicht sein scharfer, urtümlicher Gestank. Ebensowenig die strategische Umverteilung von Knochen, Sehnen und Fleisch, die ihn vom Jungen zum Mann verwandelt hatte. All das war es nicht. Es war das Eis. Sein Vetter war aus Eis. Wouter umarmte ihn und spürte nichts. Rief seinen Namen und sah, daß Jeremys Blick starr und undurchdringlich war, so hart wie die Oberfläche des zugefrorenen Teichs vor dem Haus. Verwirrt ließ er ihn los, während rings um ihn seine Geschwister zappelten, seine Mutter lächelte und sein Vater die Stirn runzelte und die Unterlippe herabhängen ließ. Jeremy blieb reglos stehen, starr wie ein Stein, und einen entsetzlichen Moment lang dachte Wouter, er sei verletzt – man habe ihn geblendet, mit Messern gestochen, man habe ihm die Zunge herausgerissen, und nun sei er gekommen, um hier zu sterben, das mußte es sein. Doch dann trat Jeremy zurück ins Dunkel, und an seiner Stelle erschien eine Squaw.
    Vielmehr ein Mädchen. Ein weibliches Wesen. Waden, Schenkel, Busen. Eingehüllt in Felle von Reh, Otter und Nerz, das Haar gefettet und zu Zöpfen geflochten, den Mund zur Schnute verzogen. Und in den Armen trug sie einen Säugling. Wouter war wie vom Donner gerührt. Das

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