World's End
einem mitleiderregenden, flehentlichen Blöken. »Essen«, winselte er, und draußen verstummte der Wind in den Bäumen. »Ich – ich –« er röchelte jetzt nur noch, seine Stimme versagte, versiegte zu einem Nichts – »verhuuuuungere.«
Neeltje saß die ganze Zeit über an seiner Seite, tupfte ihm die Stirn ab, fütterte ihn löffelweise mit Brühe und Brei, aber es half nichts. Obwohl sie von den van der Meulens Korn erbettelte und Hennen rupfte, die sie wegen der Eier gebraucht hätten, obwohl sie ihm zwei-, drei-, viermal soviel einflößte, wie ein normaler Mann essen konnte, schien ihm das Fleisch von den Knochen zu fallen. Am Ende der ersten Woche fielen seine Wangen ein, der Bauch war nur noch eine pergamentdünne Hautschicht, und die Knochen an seinen Handgelenken klapperten wie Würfel im Becher. Dann begann ihm das Haar auszufallen, sein Brustkorb sank ein, die Beine verkümmerten, und sein gesunder Fuß schrumpfte derart, daß sie ihn kaum noch von dem Stumpf am anderen Bein unterscheiden konnte. In der Mitte der zweiten Woche ertrug sie es nicht länger, und als ihre Söhne auf der Jagd waren, schlich sie hinein und durchschnitt seine Fesseln.
Langsam und schmerzvoll, wie einer, der von den Toten erwacht, setzte sich Jeremias – oder das, was von ihm übrig war – im Bett auf, warf die Decken zurück und schwang die Beine auf den Boden. Dann stand er, schwankend, und ging auf die Küche zu. Neeltje beobachtete ihn mit stummem Entsetzen. Er ignorierte die geplünderte Speisekammer, verschmähte das Trockenobst und die von der Decke hängenden Zwiebeln, Gurken und Paprikaschoten und wankte zur Tür hinaus. »Jeremias!« rief sie, »Jeremias, wo willst du hin?« Er gab keine Antwort. Erst als er den Hof überquert hatte und die Stalltür aufriß, sah sie das Schlachtermesser in seiner Hand.
Sie konnte es nicht verhindern. Die Söhne waren weiß Gott wo, schlugen sich auf der Suche nach Waldhühnern, Wildkaninchen und Eichhörnchen verzweifelt durchs Unterholz, um irgendwie das Fleisch zu ersetzen, das ihr wahnsinniger Vater verschwendet hatte; Neeltjes eigener Vater war weit weg in Croton und so altersschwach, daß er kaum noch auf seinen Namen ansprach; Geesje war bei ihrem Mann; und Agatha und Gertruyd hatte sie zu den van der Meulens geschickt, damit sie den Verfall ihres Vaters nicht mit ansehen mußten. »Jeremias!« schrie sie, als die Tür hinter ihm zufiel. Der Himmel war totengrau. Der Wind pfiff ihr ins Gesicht. Sie zögerte einen Moment, dann ging sie ins Haus zurück, verriegelte die Tür hinter sich und kniete nieder, um zu beten.
Er war schon kalt, als sie ihn fanden. Zuerst hatte er sich auf die Schweine gestürzt, doch die waren ihm offenbar zu schnell gewesen. Rumor, das alte Mutterschein, hatte zwei lange Schnittwunden an der Flanke, und eines der Ferkel zog das an der Fessel halb abgetrennte Hinterbein nach. Das in Boxen eingepferchte Vieh hatte weniger Glück gehabt. Zwei der jungen Milchkühe lagen dahingemetzelt da – die eine teilweise ausgeweidet und offenbar noch bei lebendigem Leibe angenagt –, und der braven Patience war die Kehle aufgeschlitzt worden. So fanden die Jungen die Szene vor, das dunkle Blut wie eine über den gestampften Boden gebreitete Decke, und unter der Kuh eingeklemmt lag Jeremias, die Zähne in ihr Fell geschlagen. Es war der Fünfzehnte des Monats, der Termin für den Pachtzins. Aber Jeremias Van Brunt, ehemals ein Rebell, lange Zeit ein Phantom, geistiger Bruder von Wolf Nysen und unglücklicher Erbe des seltsamen Leidens seines Vaters, würde nie wieder Pacht bezahlen. Am nächsten Morgen begruben sie ihn unter der Weißeiche und dachten, damit hätte die Sache ein Ende.
Es war aber erst der Anfang.
Als nächster schied der alte vader van der Meulen dahin; ihn traf beim Holzhacken der Schlag, und man mußte ihm die Axt aus den Händen brechen, ehe der Pastor ihn der gefrorenen Erde übergeben konnte. Bald darauf folgte ihm seine robuste Gattin, diese eigenwillige und gütige Frau, die Jeremias Van Brunt eine zweite Mutter gewesen war und deren appelbeignets und Kirschtörtchen so himmlisch geschmeckt hatten. Die Todesursache blieb unklar, doch die Klatschmäuler, die jetzt in Aufruhr waren wie ein Schlangennest, machten abwechselnd Hexerei, Kröten unter dem Haus oder in den Wein gefallene Knollenwurzeln dafür verantwortlich. Im Januar brachen dann in einer einzigen Woche des Schreckens die beiden Robideau-Töchter beim Schlittschuhlaufen
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