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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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vom zugefrorenen Ozean herüberfegt, ohne daß sich ihm auf den nächsten Gott weiß wieviel hundert Meilen irgend etwas entgegenstellt, und man die Schnürbänder der gefütterten Kapuze so fest zugezogen hat, daß es einem die Adern zupreßt. Ohne sich umzudrehen, hob Walter zum Abschied die Hand. Und flog prompt mit dem Gesicht voran auf das schartige Eis. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, war Ray schon weg.
    Vor ihm lagen sechs verschneite Blocks von Holzhütten, die die Metropole Barrow bildeten – dreitausend Einwohner, von denen, wie Ray ihm erzählt hatte, neun Zehntel Eskimos waren. Eskimos, die weiße Scheißer haßten. Die sie bespuckten und anpißten und mit den scharfen Messern ihrer unter Kapuzen hervorfunkelnden Blicke in Stücke schnitten. Walter tastete sich vorwärts, auf die Lichter zu, sein Koffer brachte ihn aus dem Gleichgewicht, die scharfen, unregelmäßigen Eiszacken auf dem Boden schleuderten seine Füße hin und her wie die Gummibanden eines gigantischen Flipperautomaten. Noch nie im Leben war ihm so kalt gewesen, nicht einmal beim Schwimmen im Van Wart Creek im Oktober oder beim Joggen zur Uni-Vorlesung Philosophie III, wo die Temperatur auch schon mal auf minus fünfundzwanzig Grad gefallen war. Kein Ausweg, dachte er. Das Grauen in der Todesstunde. Barrow. Sicher ein Irrtum, dachte er, ein Schreibfehler des Kartographen: Barren , unfruchtbar, hätte besser gepaßt. Er schleppte sich weiter, rutschte noch zweimal aus und bereute allmählich seine Jack-London-Witze. Das hier war blutiger Ernst.
    Fünf Minuten später wankte er über die Hauptstraße – die einzige Straße – von Barrow, der letzten Heimstatt und Zuflucht von Truman Van Brunt. Jedenfalls hoffte er das. War der Flugplatz völlig menschenleer gewesen, so herrschte in der Stadt ein für diese Witterung höchst reges Leben. Schneemobile heulten und spotzten herum, fegten die Straße hinauf und hinunter; Rudel von Hunden, die wie Wölfe aussahen – oder waren das Wölfe? –, knurrten und balgten und jagten einander; vermummte Gestalten stapften im Schatten der Häuser vorüber. Walters Hand, die den Koffer festhielt, war trotz seiner Thermofäustlinge längst gefühllos geworden, und er dachte zynisch, daß er sich wenigstens keine Sorgen wegen seiner Zehen zu machen brauchte. Nichts zu vermelden da unten. Kein Problem.
    Der Wind war scharf und wurde immer schärfer. Die Härchen in seinen Nasenlöchern kristallisierten, seine Lunge fühlte sich an wie tiefgefroren. Er war bereits an drei Blocks von fensterlosen Baracken vorbeigestolpert – auf den meisten Dächern, wo die Hunde nicht herankamen, waren irgendwelche Fleischbrocken, blutige, nackte Rippenstücke und alles mögliche andere zum Kühlen aufgehängt –, aber immer noch keine Spur von einem Hotel, einer Bar oder einem Restaurant. Vor ihm lagen nur noch drei weitere Blocks, und was dann? Er malte sich gerade aus, wie er sich so lange diese eisige, dunkle, unwirtliche Straße auf und ab schleppte, bis er sich irgendwann zusammenrollte und festfror wie eine Rinderhälfte, wie der sorglose Grünschnabel in der Geschichte von Jack London dem Untergang geweiht, da entdeckte er endlich auf der linken Seite eine Neonreklame für Olympia Beer, roter Rand, weiße Schrift, verheißungsvoll schimmernd wie eine Fata Morgana in der Wüste, und darunter ein handgemaltes Schild, auf dem »Northern Lights Café« stand. Zielstrebig wankte er darauf zu, er zitterte so heftig, daß er Angst hatte, sich die Schultern auszurenken, und schob sich durch die Tür.
    Eine Minute lang glaubte er, das Nirvana gefunden zu haben. Licht. Wärme. Eine Theke aus Resopal, Barhocker, Sitznischen, Menschen, in einem schlierigen Glasschrank ein Stück Apfeltorte, eine Musikbox, über der ein bunter Neonregenbogen leuchtete. Aber Moment mal, was war das? Die Bar roch, stank wie eine Latrine. Nach Erbrochenem, angewärmter Pisse, ranzigem Fett, schalem Bier. Und sie war gerammelt voll. Mit Eskimos. Eskimos. Er hatte noch nie im Leben einen Eskimo gesehen, außer in Büchern und im Fernsehen – oder vielleicht war das auch nur Anthony Quinn im Iglu irgendeines Hollywoodstudios gewesen. Nun, hier gab es welche; sie lümmelten, standen, saßen herum, schliefen, tranken, kratzten sich am Hintern und sahen alle so aus, als hätte man sie aus einem großen Sack gekippt. Ihre Blicke – tückische schwarze Augen, tief hinter den schrägen Lidschlitzen verborgen – fixierten ihn. Ihr Haar glänzte

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