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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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nun das Heck in Sicht. »Jeremy?« wiederholte er, ohne das Schiff aus den Augen zu lassen.
    Hinter sich hörte er Mardi antworten. Sie sagte, Jeremy haben den ganzen Sommer über dort gewohnt, ein bißchen gefischt und am Hafen diverse kleine Jobs gemacht. Er sei Zigeuner oder Indianer oder so was, und für einen alten Knacker eigentlich ganz in Ordnung. Walter hörte sie wie aus weiter Ferne, die Worte hallten in seinem Kopf wider, während er zusah, wie sich das Schiff gemächlich drehte und seinen Namen offenbarte, in bröckligen, verblichenen Lettern. Mit einem Mal bekam er ein komisches Gefühl. Er spürte, ohne zu wissen warum, den Zugriff der Geschichte wie eine Schlinge um den Hals. Der Name des Schiffs war Kitchawank.
    Keine Frage: es war kalt. Aber sobald sie aus dem Hafen ausgelaufen waren und die Segel gesetzt hatten, sobald sie den Puls des Flusses unter den Füßen und den ersten eisigen Schlag der Gischt im Gesicht spürten, machte das nichts mehr aus. Mardi, die ihre Strickmütze tief in die Stirn gezogen hatte, saß an der Ruderpinne, trank Kaffee aus einer Thermoskanne und blinzelte in die Sonne, als wäre es Juni, und Walter, in Gummistiefeln, Ölhosen und Regenmantel, lehnte sich weit über die Reling wie ein Kind, das zum erstenmal in einem Segelboot sitzt. Seit dem Tod seines Großvaters war er nicht mehr segeln gewesen, war seit damals überhaupt nie wieder auf den Fluß hinausgefahren. Es ließ sein Herz schneller schlagen, überflutete ihn mit Erinnerungen: es war wie eine Heimkehr. Gegen die Alpen oder die Rockies mochten diese Berge Zwerge sein – sowohl der Dunderberg wie auch Anthony’s Nose waren keine vierhundert Meter hoch –, von hier unten aber, vom Fluß aus, ragten sie steil auf wie ein Traum von Gebirge, hoch, massiv und bedrohlich. Direkt vor ihnen lag der Dunderberg, aus dem Wasser aufsteigend wie ein schlafender Riese, die Geisterflotte an seinen Fuß geschmiegt. Weiter südlich lag Indian Point mit den Kraftwerken und Brackwasserbiologen, wo Jessica ihre eingelegten Fische zählte; nach Norden hin, wo all die hohen Berge – Taurus, Storm King, Breakneck und Crow’s Nest – in den Fluß hineinwateten, öffnete sich wie ein düsterer Schlund das Tor zu den Highlands.
    Dies war das Reich des Klabautermanns vom Dunderberg, eines eigenwilligen Gnoms in Pluderhosen und mit Spitzhut auf dem Kopf, der den Fluß in seinem tückischsten Abschnitt beherrschte, zwischen Dunderberg und Storm King. Er war es, der Stürme zusammenbraute und urplötzlich Blitze auf die ahnungslosen Kapitäne der Schaluppen von dannomals herabschleuderte, er war es, der Männer lächerlich dastehen ließ und ihnen Versuchungen in den Weg legte, er war es, der über Captain Kidds Schatz wachte und jedes Schiff, das sich ihm näherte, ins Verderben riß. Er war es, der alle Verschlüsse an Stuyvesants Fässern hatte platzen lassen, als der Alte mit dem Silberbein flußaufwärts gesegelt war, um die Mohikaner zu strafen, er war es, der die Nachthaube der Gattin des Pastors Van Schaik vom unantastbaren Schädel stibitzt und auf dem Turm der Esopus-Kirche, vierzig Meilen weit weg, deponiert hatte. Sein Lachen – das wilde, stoßweise Wiehern der Geistesgestörten und Unzurechnungsfähigen – erklang im Heulen des Windes, und noch bei der heftigsten Bö konnte man sein spitzes Hütchen unbewegt auf dem Großmast sitzen sehen. Nicht einmal der abgefeimteste Seebär hätte im Traum daran gedacht, Kidd’s Point zu umsegeln, ohne vorher ein Hufeisen an den Mast zu nageln und dem Herrn vom Dunderberg einen Schluck Barbados-Rum darzubringen.
    Jedenfalls ging so die Legende. Walter kannte sie gut. Kannte sie, wie er über alle Hexen, Kobolde, pukwidjinnies und Klageweiber genaustens Bescheid wußte, die angeblich das Hudsontal heimsuchten. Dafür hatte seine Großmutter gesorgt. Aber wenn er einst daran geglaubt hatte, wenn noch ein Fünkchen der uralten Lust am Irrationalen in ihm gewesen war, der Lust des Kindes, das vor einem Leberwurstbrot gesessen und gebannt der Geschichte vom Verrat an Minewa oder der Legende des kopflosen Reiters von Sleepy Hollow gelauscht hatte, so war dieses Fünkchen im Seminar über zeitgenössische Philosophie mit Schwerpunkt auf Todessehnsucht und existentialistischem Denken ausgelöscht worden, und nur die Asche des Zynismus war zurückgeblieben.
    Doch als die Catherine Depeyster jetzt auf den Fuß des schwarzen Berges zuhielt, unter einem noch schwärzeren Himmel, mußte er

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