Worte der weißen Königin
tun, wenn er in seinen Körper schlüpfte und ihn gefangen nahm.
»Zeig es uns«, wiederholte er leise und deutlich. »Geh es holen.«
Dann ließ er mich los. Ich rannte nach oben in mein Zimmer und griff in meine Schultasche. Als ich aufsah, stand Olin neben mir.
»Wie bist du hier reingekommen?«, flüsterte ich.
»Das ist im Moment egal«, wisperte Olin. »Sag mal, hast du sie noch alle? Willst du deinem Vater dieses Zeugnis zeigen? Kannst du nicht lesen, was darin steht? Es sind vier Fünfen und eine Sechs. Wenn das Sommerzeugnis genauso wird, wirst du nicht versetzt.«
»Es ist, weil ich so häufig gefehlt habe«, sagte ich.
»Das weiß ich selbst«, sagte Olin. »Und ich frage dich: Warum hast du so häufig gefehlt?«
»Weil ich Rikikikri zähmen musste«, antwortete ich.
»Das ist Unsinn«, sagte sie, »und du weißt es. Du kannst deinen Adler genauso gut nachmittags zähmen. Und jetzt nimm das Zeugnis und klettre aus dem Fenster und lauf. Lauf weg und komm erst viel, viel später wieder, wenn dein Vater seinen Rausch ausschläft.«
»Lion!«, rief der schwarze König von unten.
»Das ist nicht mein Vater«, sagte ich zu Olin.
»Liiioon!« Ich hörte die Schritte des schwarzen Königs auf der Treppe. Schwere, ungeduldige Schritte. Ich nahm das Zeugnis und ging ihm entgegen. Er hielt sich mit einer Hand am Treppengeländer fest. Mit der anderen nahm er mein Zeugnis entgegen.
Ich folgte ihm in die Küche. Dort beugten sich die Männer alle zusammen über mein Zeugnis, während ich still vor dem Ofen mit dem verglimmenden Feuer stand.
»Na, prost!«, rief einer der Männer. »So sah mein Zeugnis damals auch aus!«
»Ja, und sieh dir an, wo du jetzt bist!«, rief ein anderer lachend.
»Ich weiß nicht, was du hast!«, rief der Erste. »Ich kriege jeden Monat mein Geld vom Staat. Reicht immerhin fürs Bier. Auf die Zukunft unserer Jugend!«
»Auf die Zukunft unserer Jugend!«, schrien alle und stießen ihre Flaschen klirrend gegeneinander.
»In diesem Fernseher ist aber auch rein gar nichts zu erkennen«, sagte jemand. »Wir sollten lieber in den Ofen gucken. Hey, leg mal was nach! Unser Fußballspiel im Ofen geht aus!«
Alle lachten schallend, und der schwarze König legte mir seine schwere Hand wieder auf die Schulter.
»Mein Sohn Lion und ich, wir holen Holz aus dem Schuppen«, sagte er.
Ich folgte dem schwarzen König über den kalten winterlichen Hof in den Schuppen, und er schwieg die ganze Zeit über. Schweigend öffnete er die Schuppentür, schweigend sammelten wir Holzscheite in einen Korb: Holz aus dem Wald und Abfallholz von Reparaturen am Haus.
»So«, sagte der schwarze König, als der Korb voll war. Ich erkannte die Ruhe in seiner Stimme. Es war die Ruhe, die über ihn kam, wenn er nach seinem Schwert griff: dem Ziegenstrick. Denn der Ziegenstrick war der wahre Grund dafür, dass ich in der Schule so oft gefehlt hatte. Der Strick und seine verräterischen Spuren. Ich hatte in den letzten Monaten enge Bekanntschaft mit ihm gemacht. Aber jetzt lag der Strick ordentlich aufgerollt unter der Spüle, wo die anderen Männer saßen. Er konnte mir nichts anhaben.
»So«, sagte der schwarze König noch einmal, »und du hast also nicht vor, im nächsten Sommer versetzt zu werden? Du hast also vergessen, was dir dein Vater gesagt hat? Dass du dich anstrengen musst, damit du etwas Besseres wirst? Damit du kein Verlierer wirst wie er? Was bist du nur für eine erbärmliche Figur! Genauso erbärmlich wie dein Vater.«
Und dann bückte er sich und zog eine alte Bodenleiste aus dem Vorrat von Brennmaterial. Ich sah ihr hartes Holz und ihre scharfen Kanten, ehe ich mich duckte und die Arme über meinen Kopf hielt. Und ich versuchte, mich mit den vielen neu gefundenen Worten über den gezähmten Fuchs zu schützen. Doch nicht einmal diese vielen, vielen Worte reichten aus.
Ich weiß nicht, was der schwarze König den anderen Männern in der Küche erzählt hat. Vielleicht, dass ich müde war und ins Bett gegangen bin. Ich bin nicht ins Bett gegangen.
Es war Olin, die mich trug. Sie tauchte einfach wieder im Schuppen auf, und sie war viel stärker, als ich gedacht hatte.
»Bleib bei mir«, bat ich, als sie mich in mein Bett legte.
Sie schüttelte den Kopf. »Du musst schon selbst von hier weggehen«, sagte sie, »wenn du mit mir zusammen sein willst.«
Damit verschwand sie und ließ mich allein. Und ich streckte meinen Arm aus, um die Adlerfedern über dem Bett zu berühren.
Aber mein Arm
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