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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Komm!«
    Ich trug ihn den ganzen Weg nach Hause, und dort versteckte ich ihn auf dem Dachboden des Schuppens. Mein Vater betrat den Dachboden nie, denn die Bretter waren morsch, und er sagte, sie trügen das Gewicht eines Erwachsenen nicht mehr. Mein Gewicht trugen sie, und auch das von Rikikikri.
    Ich schiente seinen Flügel so, wie sie in der Klinik meinen Arm geschient hatten, nur nicht mit Gips, sondern mit Klebeband und einem Brett. Und ich fütterte meinen Adler und sprach mit ihm, jeden Tag. Die Angst wich nach und nach aus seinen gelben Augen. Sein Herz schlug nicht mehr so schnell, wenn ich ihn hochhob. Sein Flügel und mein Arm heilten gleichzeitig.
    Manchmal sah ich Olin auf dem Schuppendach bei den Tauben sitzen, doch ich hatte keine Lust, mit ihr zu sprechen.
    Eines Tages war Rikikikris Flügel so weit geheilt, dass er wieder fliegen konnte. Da ließ ich ihn frei. Ich erinnerte mich daran, wie die weiße Königin Geschichten von Kindern vorgelesen hatte, die Tiere gesund pflegten und sie gern behalten wollten. Ich wollte Rikikikri nicht behalten. Ich wollte, dass er in den blauen Himmel hinaufflog und frei war. Nur dann machte sein Dasein für mich einen Sinn. Ich liebte ihn, weil er frei war.
    Ich hatte ihn gezähmt, doch er war nicht zahm.
    Er flog auf und stieß seinen Ruf aus: »Rikikikriiiii!«, und glitt auf dem Wind davon. Und es war, als flöge ein Stück von mir mit ihm. Beinahe wurde mir schwindelig, während ich auf der Lichtung stand und ihm nachsah.
    »Du könntest es tun«, sagte jemand neben mir. »Mit ihm fliegen.«
    Ich fuhr herum.
    »Olin«, sagte ich. »Musst du dich immer so heimlich anschleichen?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Das ist eine Sache, die man lernt, wenn man im Wald lebt«, antwortete sie.
    »Im Übrigen«, sagte ich, »hast du doch gesagt, ich soll meinem Vater nicht glauben. Aber er hat die Wahrheit gesagt. Er trinkt nichts außer Wasser. Der schwarze König ist nicht mehr da. Und der alte Ziegenstrick liegt irgendwo im Müll.«
    »So, so«, sagte Olin.
    Damit verschwand sie im Wald, lautlos, wie sie gekommen war.
    Ich hasse es, das zuzugeben – doch es war am Ende Olin, die recht behielt.
    Irgendwie wanderte der Ziegenstrick ins Haus zurück, an seinen alten Platz unter der Spüle. Das Gebäude der freiwilligen Feuerwehr war gestrichen, es gab keine Ein-Euro-Jobs mehr, und auch der schwarze König kehrte zurück.
    Er war schlauer geworden – er wusste jetzt, dass es Grenzen gab, die er nicht überschreiten durfte. Vielleicht hatte der schwarze König, der sonst vor nichts Angst hatte, Angst vor den Ärzten in der Klinik.
    Aber es gab auch jede Menge schöne Dinge. Der Frühling kam, der Raps blühte gelb auf den Feldern. Ich hatte die wiedergefundenen Worte der weißen Königin. Und ich hatte Rikikikri. Wenn ich zu unserer Lichtung am Deich ging, saß er manchmal schon da, auf einem hohen Kiefernast, und wartete. Ich sah ihm zu, wie er aufstieg und davonflog; er flog nur für mich – und keiner der anderen Adler war so schön wie er.
    Am Ende des Schuljahrs blieb ich sitzen.
    Ich denke, ich brauche nicht zu erwähnen, was der schwarze König sagte, als er es mitbekam.
    Seine Besuche wurden immer häufiger. Und so schrecklich es war, dass er da war, der schwarze König – am schrecklichsten war es, dass mein Vater nicht da war, wenn er kam. Ich vermisste meinen Vater. Wenn er da war, wirkte er abgespannt und erschöpft. Manchmal saßen wir lange zusammen in der Küche und schwiegen und starrten auf den Fernsehbildschirm, auf dem es nur noch Schneegestöber gab. Es war wie Umarmen.
    Das Geld wurde knapp. Noch knapper als bisher.
    Der schwarze König gab es für Bier und Schnaps aus. Es blieb nicht genug, um die Tiere zu füttern. Wir schlachteten und verkauften alle Ziegen und die Hälfte der Hühner. Dennoch reichte es nicht.
    Da erinnerte ich mich an die Bücher.
    Es war so einfach gewesen, sie mitzunehmen. Ich hätte mich nur nicht vom schwarzen König erwischen lassen dürfen.
    Und so begann ich, statt Büchern andere Dinge mitgehen zu lassen. Keine aufregenden Dinge. Margarine. Wurst. Hühnerfutter. Mein Vater merkte nichts. Er hatte die Übersicht darüber verloren, was wir im Kühlschrank hatten und wie es dorthin kam.
    Er merkte auch nicht, dass ich die vierte Klasse schon wieder nicht schaffen würde, wenn es so weiterging. Es tat mir ein bisschen leid wegen der Lehrerin, die immer noch nett zu mir war. Aber sie fing an, Fragen zu stellen –

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