Worte der weißen Königin
weshalb ichmanchmal nicht kam und weshalb ich im Sommer lange Ärmel trug und lauter Dinge, die sie nichts angingen. Manchmal überlegte ich mir, ob ich lieber gar nicht mehr hingehen sollte. Aber in der Schule, in der letzten Bank, konnte man besser schlafen als zu Hause, wo man vor dem schwarzen König nicht mehr sicher war.
Mein Vater war jetzt so selten da, dass ich begann, ihn zu vergessen. Und dann kam der Morgen, an dem ich ihn zum letzten Mal sah. Er stand draußen im Hof und betrachtete ratlos den Zaun, hinter dem früher die Ziegen gegrast hatten.
»Habe ich dir erzählt, dass damals eine Ziege weggelaufen ist?«, fragte er, als ich vorsichtig neben ihn trat. »An dem Tag, ehe deine Mutter wegging?«
»Ja«, sagte ich, »das hast du mir erzählt.«
»Wenn man nur die Zeit zurückdrehen könnte«, sagte mein Vater. »Und alles anders machen.«
»Ja«, sagte ich wieder, »das wäre gut. Ich hätte gern die Zeit zurück, als es in der Kirche in Wehrland noch Geschichten zu hören gab.«
»Diese Zeit kommt nicht zurück«, sagte mein Vater. »Die Frau, die die Geschichten gelesen hat, ist tot. Sie war alt, und sie ist gestorben.«
Da zog sich alles in mir zusammen zu einem eisigen Klumpen.
»Nein«, sagte ich. »Nein!« Ich merkte, dass ich zu laut sprach. »Meine weiße Königin ist nicht tot! Ihre Worte sind noch da! Und ich … ich … ich hatte sie so gern …«
»Mehr als mich«, sagte mein Vater bitter. Dann drehte ersich um und ging ins Haus. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater sah.
Denn als ich ihm ins Haus folgte, eine Viertelstunde später, da saß der schwarze König am Küchentisch. Seine Dunkelheit strahlte mir entgegen wie eine umgekehrte Art von sehr hellem Licht. Vor ihm stand ein leeres Wasserglas. Es roch nicht nach Wasser.
»Oh doch, sie ist tot«, wiederholte der schwarze König, der unser Gespräch also belauscht hatte. »Deine Geschichtenerzählerin. Und weißt du, wer noch tot ist? Dieser Verlierer, dein Vater. Es ist nichts von ihm übrig geblieben. Und glaub nicht, dass ich nichts von deinem Adler weiß. Der Adler lebt auch nicht mehr lang. Eines Tages fliegt er mir vor die Flinte, du wirst schon sehen. Und glaub nicht, ich wüsste nicht, dass du klaust. Und glaub nicht, dass ich das durchgehen lasse. Wer stiehlt, wird bestraft.«
Aber er stand nicht auf. Er goss das Wasserglas noch einmal voll mit etwas, das kein Wasser war. Da drehte ich mich wortlos um und lief hinaus zum Schuppen, wo der schwarze König seine Flaschen aufbewahrte. Er hatte einen Vorrat gebunkert, denn er kaufte den Schnaps, wenn er gerade irgendwo billig war. Meine Hände zitterten, als ich die erste Flasche hochhob.
»Jetzt lauf, du Dummkopf«, sagte eine bekannte Stimme von der Tür.
Ich drehte mich nicht um.
»Nein«, sagte ich. »Ich glaube nicht, dass mein Vater tot ist.«
Und weil ich es nicht glauben wollte, machte ich einen letzten Versuch, ihn zu retten. Ich begann, alle Flaschen aufzuschrauben und ihren Inhalt auszugießen. Ich schüttelte jede einzelne, bis kein Tropfen mehr darin war. Als ich die letzte Flasche in der Hand hielt, blockierte eine Gestalt die Tür und schloss das Licht aus. Es war nicht Olin.
Ich wandte den Kopf, die letzte offene Flasche noch in der Hand, mit dem Hals nach unten – und sah ins Gesicht des schwarzen Königs. Er hielt den Strick in der Hand.
Als er begriff, was ich getan hatte, brüllte er wie ein verwundetes Tier.
Und dann.
Ach nein, aber was dann geschah, kann sich wohl jeder vorstellen, denn ich habe überhaupt keine Lust, es zu erzählen.
Es war schlimmer als alles zuvor. Da war zerbrechendes Glas, und da waren die rot geränderten Augen, die ich so hasste, da war Licht und Dunkelheit, und da war der Brennholzstapel, in den jemand fiel, kantige, harte Holzscheite, und ich sah Olins Gesicht an einem Fenster oder ich weiß nicht, wo. Irgendwann war da ein Stück Himmel, der Hof, der Zaun, das Haus, die Kellertreppe. Irgendwann schlug eine Tür zu. Irgendwann wurde ein Schlüssel umgedreht. Und irgendwann erwachte ich und lag seit Langem, Langem allein in der Dunkelheit.
Und dort beginnt meine Geschichte.
Aber nein. Sie hat ja längst begonnen.
5. Kapitel
Die Angst schmeckt bitter
D er Adler war jetzt ganz nah. Mein Adler. Rikikikri. Nun war ich sicher, dass er mich sah. Er drehte eine letzte Schleife, direkt über dem Hof, und flog steil hinab, auf das Fenster zu. Und mir wurde klar, dass er in den Schacht fliegen würde, in dem
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