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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Spaltbreit offen.
    »Olin!«, flüsterte ich.
    »Natürlich«, sagte Olin. »Hast du gehört, dass du ein Dummkopf bist?«
    »Ja«, sagte ich. »Ich bin ein Dummkopf, aber taub bin ich nicht.«
    »Nur blind«, sagte Olin. »Hast du die vollen Flaschen im Schuppen nicht gesehen? Und das Messer, das heute in deiner Hand lag, beim Häuten des Rehs?«
    Ich schwieg.
    »Du hättest es einstecken sollen«, fuhr Olin fort, »als er nicht hingeguckt hat. Du könntest es brauchen. Es ist ein gutes Messer. Die guten Messer für die Jagd bewahrt er irgendwo in seinem Zimmer auf, in dem verschlossenen Schrank mit dem Gewehr, aber heute hättest du eine Chance gehabt. Du hättest das Messer gegen den schwarzen König richten können und …«
    »Sei still!«, befahl ich ihr schroff. »Du bist ja viel dümmer als ich. Wenn ich das Messer gegen den schwarzen König richte, richte ich es auch gegen meinen Vater. Wenn ich den schwarzen König verletze, verletze ich auch ihn. Das ist der Trick des schwarzen Königs. Hast du das nicht begriffen?«
    »Ich habe noch mehr begriffen!«, zischte Olin. »Ich habe begriffen, dass es deinen schwarzen König nicht …«
    Da steckte ich den Kopf unter mein Kissen und drückte es mir gegen die Ohren, denn ich wollte nichts mehr hören. Als ich das Kissen wegnahm, war meine Schwester fort.
    In dem Herbst und dem Winter, in dem ich in die vierte Klasse der Förderschule ging, zähmte ich Rikikikri. Ich brauchte unendlich viel Zeit dafür und unendlich viele Wurststullen. Doch mein Herz sang jedes Mal, wenn ich meinen Adler sah, und wenn er ein Stückchen näher kam, platzte ich beinahe vor Glück.
    Und noch etwas geschah. Ich erinnerte mich an mehr Worte. Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die die weiße Königin vorgelesen hatte, eine traurige und zugleich eine ganz wunderbare Geschichte. In der Geschichte hatte jemand einen Fuchs gezähmt.
    Und das waren die Worte, an die ich mich erinnerte:
    Bitte, zähme mich, sagte der Fuchs.
    Man kennt nur die Dinge, die man zähmt, sagte der Fuchs. Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgendetwas kennenzulernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr …
    Ach, sagte der Fuchs, ich werde weinen.
    Das ist deine Schuld, sagte der kleine Prinz, ich wünschte dir nichts Übles, aber du wolltest, dass ich dich zähme.
    Gewiss, sagte der Fuchs.
    Das waren eine Menge Worte am Stück.
    Ich erinnerte mich an all diese Worte.
    An dem Tag, an dem wir unsere Winterzeugnisse bekamen, vor den Faschingsferien, berührte ich Rikikikri fast. Ich saß mit ausgestreckter Hand auf der Lichtung, und ich zitterte vor Kälte. Da kam er ganz nahe. Die See war nicht zugefroren, aber es gab trotzdem weniger Fisch, und die Wurststullen waren über die Wintermonate immer wichtiger geworden für meinen Adler. Sein gelber Schnabel war nur noch einen Zentimeter von meinen Fingerspitzen entfernt, da knackte im Wald ein Ast – ein Reh oder Hirsch war dort unterwegs –, und mein Adler rief sein einziges Wort, das gleichzeitig sein Name war.
    »Rikikikriii!«, rief er und flog auf.
    Dennoch war ich froh, als ich nach Hause zurückkehrte. Ich hatte es beinahe, beinahe geschafft.
    Als ich an den Ruinen der verlassenen Häuser vorüberging, hörte ich Stimmen aus unserem Haus: laute, tiefe, ausgelassene Stimmen. Mein Vater war nicht allein. Ich hatte keine Lust, den Männern zu begegnen, mit denen er sich traf. Aber ich war hungrig. Immerhin verfütterte ich mein Mittagessen seit Monaten an einen Seeadler. So brachte ich meine Schultasche hinauf in mein Zimmer, schlich in die Küche undhoffte, dass niemand mich bemerkte. Im bildgestörten Fernseher lief ein lautes Fußballspiel, bei dem man die Spieler alle doppelt sah, und der Zigarettenqualm war so dicht wie Nebel. Aber als ich die Kühlschranktür öffnete, quietschte sie noch lauter als das Fußballspiel. Und einer der Männer drehte sich zu mir um.
    »Hey, Lion!«, rief er. »Schon einen auf dein Winterzeugnis gekippt?«
    Da packte mich jemand an der Schulter. Ich sah mich um und blickte in die Augen des schwarzen Königs. »So, ein Zeugnis habt ihr bekommen heute«, sagte er.
    »Zeig uns das olle Zeugnis!«, rief ein anderer Mann und lachte. »Wollen mal sehen, ob’s was zu feiern gibt!«
    Ich wand mich im Griff des schwarzen Königs, doch der schwarze König war stark. Noch viel stärker als mein Vater. Deshalb konnte mein Vater nichts

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