Worte der weißen Königin
tat höllisch weh.
Diesmal war der schwarze König zu weit gegangen.
Als er meinen Vater am nächsten Tag freigab und mein Vater die Küche aufgeräumt hatte, hielt er mich lange fest und weinte. Wirklich, er weinte wie ein kleines Kind.
Dann brachte er mich zur Klinik in der Stadt.
Aus dem Busfenster sah ich am Himmel einen Adler, aber er war zu weit weg. Ich wusste nicht, ob es mein Adler war.
In der Klinik stellten sie fest, dass mein rechter Unterarm gebrochen war. Und ich erfand eine ziemlich komplizierte Geschichte darüber, wie ich im Wald von einem Baum gefallen war und mir neben dem Bruch eine Menge Platzwunden und blaue Flecken geholt hatte, und die Striemen stammten von den Ästen, durch die ich gefallen war.
»Fällst du häufiger von Bäumen im Wald?«, fragte der Arzt.
Ich nickte. »Ich bin dauernd im Wald«, sagte ich. »Ich habe einen Seeadler dort. Oder fast. Ich zähme ihn.«
»So«, sagte der Arzt, und ich konnte hören, dass er mir nicht glaubte.
Ich bekam einen Gips, und sie behielten mich ein paar Tage da, obwohl ich nicht wusste, warum. Ich sah das blaue Stück Himmel im Fenster an und sehnte mich nach Rikikikri und nach dem Geruch des Waldes. Das Krankenhaus roch nach Alkohol. Ich wusste, dass es das Desinfektionsmittel war, aber es erinnerte mich trotzdem an den schwarzen König, und mir wurde übel von dem Geruch.
Die Ärzte, die nach meinem Arm und meinen Wunden sahen, fragten mich eine Menge Dinge. Dinge über meinen Vater. Ich sagte ihnen die Wahrheit. Dass ich meinen Vater sehr gernhatte und dass ich mit ihm zusammen über die Felder wanderte und dass ich alles, was ich konnte, von ihm gelernt hatte.
»Und wenn du nun nicht von einem Baum gefallen wärst«, sagte eine Ärztin schließlich, »wenn jemand anders verantwortlich wäre für … dafür, dass dein Arm gebrochen ist. Es ist eine Stelle, die man sich leicht bricht, wenn man die Armeüber den Kopf legt, um sich zu schützen. Sag mir ehrlich, Lei-an …« – sie sprach meinen Namen auf eine komische Art aus, wie einen Kaugummi, und offenbar dachte sie, so wäre es richtiger als Li-Jonn –, »… sag mir ehrlich, war das dein Vater, der dich verletzt hat?«
»Nein!«, rief ich ärgerlich. »Natürlich nicht! Wie kommen Sie denn auf so einen Unsinn?«
Olin besuchte mich ein paarmal, wenn niemand sonst da war. Sie saß nur neben meinem Bett und schüttelte den Kopf und schwieg, und ich schwieg auch, weil ich nicht wusste, was ich hätte sagen sollen.
Dann kam ich zurück nach Hause, und im ganzen Haus war keine einzige Bier- oder Schnapsflasche zu finden. Die alten Leisten waren alle aus dem Holzschuppen verschwunden, und der Platz unter der Spüle war leer.
»Diesen alten Strick«, sagte mein Vater beiläufig, »der da herumlag, den habe ich auf den Müll geworfen. Und übrigens habe ich ab nächster Woche Arbeit. Na ja, einen Ein-Euro-Job, aber immerhin. Es ist besser, wenn man was zu tun hat, nicht wahr? Ich helfe, das Gebäude der freiwilligen Feuerwehr zu streichen. Und ich trinke nichts mehr. Hörst du mich? Nur noch Wasser. Verflucht will ich sein, wenn das nicht die Wahrheit ist.«
»Glaub ihm nicht«, sagte Olin an diesem Abend zu mir. »Glaub ihm kein Wort.«
»Du, du hast keine Ahnung!«, zischte ich böse. »Du wohnst da draußen allein im Wald und hast nie jemanden gerngehabt. Du weißt nicht, wie das ist.«
Rikikikri war fort.
Tagelang lief ich umher und suchte ihn, und als ich ihn fand, waren drei Wochen vergangen.
Ich fand ihn auf einer Lichtung, und er flog nicht fort, als ich näher kam.
»Rikikikri«, sagte ich leise, »wo warst du? Wo warst du nur? Ich habe dich vermisst.«
Er flog auch nicht fort, als ich mich neben ihn kniete. Da sah ich, dass er verletzt war. Sein rechter Flügel hing schlaff herunter. Er war mager geworden, und er sah erschöpft aus. Ich spürte sein jagendes Herz unter meinen Händen. Er hatte noch immer Angst vor mir. Aber er brauchte mich. Jetzt brauchte er mich wirklich. Sein Flügel war gebrochen.
Ich hatte die Bauern erzählen hören, dass die Seeadler manchmal mit Zügen zusammenstießen oder vom Sturm gegen Hochspannungsmasten getrieben wurden. Und dass die Förster manchmal verletzte Adler fanden, die schon meilenweit gelaufen waren.
»Hab keine Angst«, flüsterte ich und hob meinen Adler hoch, was schwierig war, weil ich immer noch einen Gips und eine Schlinge trug. Und mein Adler war schwer. »Hab keine Angst, ich helfe dir. Ich pflege dich gesund.
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