Worte der weißen Königin
das Kellerfenster lag. In den Schacht und gegen das Fenster. Er begriff nicht, dass dort eine Scheibe war, die mich von ihm trennte.
Ich schlug eine Hand vor den Mund, und mehr konnte ich nicht tun, denn in diesem Moment schlossen die riesigen Schwingen des Adlers das Licht schon aus.
Da kniff ich die Augen zusammen und duckte mich, wie ich es immer tat. Aber hatte ich nicht beschlossen, damit aufzuhören? Ich zwang mich, die Augen wieder zu öffnen. Rikikikri saß vor der Scheibe im Kellerschacht und sah mich an. Er war nicht gegen das Glas geflogen.
Er hatte im letzten Moment doch begriffen, dass es Glas war, denn es war sehr, sehr dreckiges Glas. Wie dankbar ich für die Dreckschlieren war!
»Ja, es ist ein Fenster«, sagte ich. »So wie eine Wand. So wie das Eis auf der Ostsee, im Winter, verstehst du?«
Rikikikri schien zu überlegen. Dann holte er aus und schlug seinen Schnabel gegen das Glas, als wäre es wirklich Eis. Als wollte er einen Fisch fangen, der darunter entlangschwamm.
Ich zuckte zusammen. Ein dünner Riss breitete sich jetzt über das Fensterglas-Eis. Rikikikri schlug noch einmal zu mit seinem Schnabel. Ein kleines Stück Glas brach aus der Scheibe und zersplitterte vor meinen Füßen zu tausend Scherben – wie gläserner, glitzernder Vogelflaum.
Mein Adler legte den Kopf schief. »Rii«, sagte er. »Rikikikriii.«
Und dann breitete er die Flügel aus – so gut es ging in dem engen Schacht – und flog hinauf auf den Rand des Schachts. Dort blieb er sitzen und sah weiter zu mir hinunter.
»Worauf wartest du?«, flüsterte jemand neben mir. »Er hat dir doch gezeigt, was du zu tun hast.«
Ich sah mich um. »Olin? Wo … wo bist du?«
»Hier«, sagte Olin.
»Hier? In diesem Kellerraum?«, wisperte ich. »Aber wie kannst du hier sein? Warst du die ganze Zeit da? Bist du mit hier hineingeschlüpft, ehe der schwarze König die Tür abgeschlossen hat?«
»Ich habe mich versteckt«, antwortete Olin, »damit er mich nicht sieht.«
Da entdeckte ich sie. Auf einem der Kellerregale stand zwischen anderen alten Sachen auch ein billiger alter Spiegel, fleckig und beinahe blind. Aus diesem Spiegel sah meine Schwester mich an. Einen Moment lang dachte ich wieder, es wäre nur mein eigenes Spiegelbild. Aber das Bild im Spiegelhatte keine blauen Flecken und keine Schnittwunden im Gesicht, und ich wusste, dass ich welche hatte. Und die braunen Augen in diesem Gesicht blitzten, anders als die Augen meines eigenen Spiegelbildes. Kampfeslustig.
»Wie kann man sich denn in einem Spiegel verstecken?«, fragte ich.
»Es gehört zu den Dingen, die man lernt, wenn man im Wald lebt«, erwiderte Olin.
»So«, sagte ich. »Dann werde ich es wohl auch lernen.«
»Tu es jetzt«, sagte Olin. »Zerschlag die Scheibe ganz. Los.«
Ich schluckte. Ich dachte an meinen Vater, der mich gefüttert hatte, als ich ein kleines Kind war, der mir gezeigt hatte, wie man sich die Schuhe bindet und wie man im Stehen pinkelt und wie man die Spuren der Tiere liest. Irgendwo saß er gefangen, und ich würde ihn vielleicht nie wiedersehen. Aber vielleicht lebte er auch gar nicht mehr.
Ich rief alle schönen Bilder in meinen Kopf: die Schneeglöckchen unter den Alleebäumen. Die winzigen Wellen des Meeres morgens um sieben, wenn wir zum Angeln hinausgepaddelt waren. Die Kirche in Wehrland, in der vor dem Altar ein paar Klappstühle standen.
Dann ballte ich meine Hände zu Fäusten und zerschlug das dreckige, rissige Fensterglas. Ich schlug mehrfach zu, und ich spürte, wie das Glas die Haut über meinen Fingerknöcheln zerschnitt. Aber es tat nicht weh. Ich hatte keinen Platz mehr in mir für Schmerzen, dieser Platz war beim letzten Kampf mit dem schwarzen König einfach aufgebraucht worden.
»Riii!«, rief mein Adler leise, lockend. »Rikikikriiii!«
Und er erhob sich in die Luft, um davonzufliegen auf seinen weiten Schwingen.
»Ich komme«, flüsterte ich. Und ich zog mich am Fenster hinauf und kletterte durch das zerbrochene Fenster in den Schacht und von dort aus hinauf in den Hof. Die Helligkeit des Tages biss in meine Augen und ließ mich blinzeln. Ich stützte mich an der Wand ab, um auf die Beine zu kommen. Einen Moment blieb ich so stehen und lauschte. Nur die Hühner gackerten irgendwo in einer Ecke.
Der schwarze König war nicht zu sehen und nicht zu hören.
Ich wollte etwas sagen, etwas Letztes, zu dem Hof, zu den sonnigen Lehmziegelmauern, zu dem Haus, in dem ich zehn Jahre lang gewohnt hatte. Doch ich
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