Worte der weißen Königin
dass es keinen schwarzen König gibt.«
»Ja«, sagte ich. Und dann auch lange nichts. »Doch«, flüsterte ich nach einer Ewigkeit. »Natürlich gibt es einen schwarzen König.« Ich zog meinen Kapuzenpulli aus und mein altes graues T-Shirt.
»Sieh mich an«, sagte ich. »Das, was du siehst, sind die Spuren des schwarzen Königs. Wessen Spuren sollten es sonst sein?«
Olin ließ ihren Blick über meinen Oberkörper und meine Arme gleiten.
»Gut, dass es dunkel wird«, sagte sie. »Man sieht sonst so viel. Man wird so wütend. Ich bin den ganzen Tag wütend, weißt du. Nur wenn es dunkel wird, geht die Wut ein wenig zurück. Sie schmeckt auch bitter, wie die Angst.«
Das Feuer war zu einem orangefarbenen Glutflecken hinuntergebrannt, der aus vielen kleinen hellen Punkten bestand. Es sah aus, als hätte jemand die Sterne aus den Ästen der Bäume geschüttelt. Doch als ich aufsah, waren die Sterne alle noch da. Natürlich wusste ich, dass sie nicht in den Ästen hingen. Es fühlte sich nur schön an, das zu denken. Wie die Worte der weißen Königin.
»Kennst du die weiße Königin?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Olin. »Leg dich dort neben die Glut. Auf den Bauch. Nein, zieh das T-Shirt nicht wieder an.«
Ich gehorchte, obwohl ich fror. Als ich den Kopf zur Seite drehte, sah ich, wie Olin nach dem Bündel grüner Stängel und Blätter griff. Sie hielt die Pflanzen kurz über die Glut, und ein würziger Geruch füllte die Luft. Vor sehr langer Zeit hatte mein Vater mir etwas über die Kräuter des Waldes erzählt – welche giftig waren, aus welchen man Tee kochen und welche man benutzen konnte, um Wunden zu heilen. Vielleicht, dachte ich, hatte auch Olin ihr Wissen von ihm?
Sie war noch so klein gewesen, als sie fortgelaufen war. Was hatte sie gesagt – drei Jahre alt? Irgendwie erschien mir diese Geschichte ohnehin seltsam … Aber war es nicht egal, woherOlin kam und wie lange sie schon im Wald wohnte, solange sie nur da war?
Sie zupfte die Blätter von den Stängeln und presste sie auf die Wunden auf meinem Rücken, und ich schrie auf, denn ein paar der Wunden waren Schnittwunden. Einer, der die Flaschen des schwarzen Königs ausgießt, dachte ich, muss sich nicht wundern, wenn er in Scherben stürzt. Aber vielleicht war ich ja nicht gestürzt. Vielleicht hatte jemand mit einer zerbrochenen Flasche zugeschlagen.
»Schrei ruhig«, sagte Olin. »Schrei, so laut du willst. Die Blätter werden helfen, damit sich die Wunden nicht entzünden. Aber das Schreien hilft, damit sich die Seele nicht entzündet. Schreien ist besser als ducken. Eines Tages lernst du es. Eines Tages lernst du die Wut.«
Ich wusste nicht, ob ich das wollte. Olin hatte Wut für zwei. Den Saft der letzten Blätter presste sie zwischen ihren Händen aus, und dann rieb sie die Wunden in meinem Gesicht mit diesen Händen ein. Es brannte, doch diesmal biss ich die Zähne zusammen.
»Er hätte dich umgebracht«, flüsterte Olin. »Eines Tages hätte er dich umgebracht.«
Sie legte die ausgepressten Blätter auf die Glut, goss den Rest des Wassers darauf und lief ohne ein weiteres Wort davon in den Wald. Aus der Glut stieg ein schwerer, grün duftender Qualm auf. Er hüllte mich ganz ein, wie eine Decke, und als ich ihn einatmete, fror ich nicht mehr. Kurz darauf packte mich der Schlaf.
Irgendwann in der Nacht wachte ich auf und sah über mir einen Frühjahrsmond durch die Äste scheinen. Ich setzte mich zitternd auf und streifte das T-Shirt und den Pullover über. Aprilnächte sind nicht warm an der Ostsee.
Der Adlerhorst hing als schwarzer Klumpen oben in der Esche, doch Rikikikri schlief nicht darin. Ich sah ihn am Himmel, vor dem Mond. Der Ring an seinem linken Fuß glitzerte im weißen Licht.
Mein Adler war nicht allein. Andere Adler waren bei ihm, sieben oder acht, sie spielten dort oben im Mondlicht, jagten sich und berührten sich beinahe in der Luft … Es war wie ein Tanz.
Und dann sah ich noch etwas. Ich sah einen Schatten hoch in den Ästen einer Kiefer, nicht weit fort. Einen menschlichen Schatten. Olin. Sie kletterte ganz hoch, bis in den Wipfel des Baumes. Als sie dort angekommen war, machte sie etwas wie einen Satz – ich schnappte nach Luft vor Schreck, doch sie fiel nicht. Sie breitete die Arme aus und flog mit den Adlern, als Schattenriss, unter dem Mond.
»Das … das ist doch unmöglich!«, flüsterte ich.
Aber es gab keinen Zweifel, da flog sie, meine ältere Schwester, mitten unter den Seeadlern. Ich
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