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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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hoch.
    Das Glitschige rutschte von meinem Gesicht in den Ausschnitt meines Hemdes und landete auf meiner Brust. Es zappelte. Ich glaube, ich schrie. Als ich mein Hemd hochriss, fand ich auf meiner bloßen Brust einen großen, silbrig glänzenden Fisch. Ich packte ihn am Schwanz und schlug ihn mit aller Kraft gegen den Baumstamm, um ihn nicht länger leiden zu lassen.
    »Es könnte ein Großvater sein«, hörte ich die weiße Königin sagen, »der als Fisch wieder auf die Welt gekommen ist.«
    Als ich zu dem Horst in der uralten Esche sah, war Rikikikri gerade abermals dort gelandet.
    Und jetzt faltete er die riesigen Schwingen auf seine umständliche Art zusammen, als hätte er vor, zu bleiben.
    »Kriii!«, rief er und ließ sich in dem Gewirr aus Ästen nieder. »Kriiirii!«
    »Ich habe meine Schuldigkeit getan«, hieß das. »Ich habe dich in mein Revier geholt und dich gefüttert. Nun brauche ich meine Ruhe.«
    Da lachte ich wieder. Ich stellte mir mein Gesicht vor, als der glitschige Fisch auf mir gelandet war, und ich lachte noch mehr, ich lachte und lachte, bis ich Bauchschmerzen bekam davon.
    »Ab heute lache ich jeden Tag«, sagte ich laut. »Und wenn es nichts anderes zu lachen gibt, lache ich über mich selbst. Denn garantiert werde ich in genug Sümpfe hineingeraten und genug Fische ins Gesicht bekommen.«
    »Garantiert«, sagte jemand neben mir. »So, wie du dich anstellst.«
    Ich drehte mich um, und da stand meine Schwester hinter mir.
    »Willkommen«, sagte sie feierlich. »Willkommen im Wald.«
    »Ja, äh, hallo«, sagte ich, weil mir die Feierlichkeit ein wenig peinlich war, und auch der Fisch. Hatte sie die ganze Zeit dort gestanden? Hatte sie mein dummes Gesicht gesehen?
    Ich sah sie zum ersten Mal von Nahem – nicht nur als Schatten im Wald oder in der Dunkelheit vor meinem Fenster oder in einem beinahe blinden Spiegel. Ich stand von dem Baumstamm auf, und da stellte ich fest, dass sie ein bisschen größerwar als ich – und ein bisschen kräftiger. Aber ihr braunes Haar und ihre Augen und ihre Sommersprossen waren die gleichen, die ich hatte. Es waren das Haar und die Sommersprossen unserer Mutter, das wusste ich von einem alten Bild, und die Augen unseres Vaters. Über Olins Nase lief ein Kratzer, doch das war sicher ein Kratzer von einem Ast, ein Gruß des Waldes.
    »Warst du wirklich in dem Spiegel?«, fragte ich. Denn niemand kann in einem Spiegel sein, nicht wahr?
    Sie antwortete nicht. Sie nahm mir den Fisch aus der Hand.
    »Wann hast du das letzte Mal gegessen?«, fragte sie.
    Dann setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden, zog einen scharfkantigen Stein aus der Tasche und begann, den Fisch auszunehmen. Ich sah ihr stumm dabei zu. Ich sah ihr auch zu, während sie Holz sammelte, und ich folgte ihr durch den Wald bis zu einer kleinen Lichtung, wo sie ein altes Feuerzeug unter den Blättern hervorzog und Feuer machte. Vielleicht hatte sie es früher einmal im Wald gefunden. Aber wo hatte sie die Kleider gefunden, die sie trug? Es waren ganz normale Kleider, eine abgewetzte schwarze Jeans, ähnlich wie meine, ein graues T-Shirt und ein zu weiter brauner Kapuzenpulli. Tarnfarbene Kleider, Kleider, die Olin zu einem Schatten machten, wenn sie es wollte. Ein Rätsel umgab sie wie ein Mantel, und ich wusste, dass sie keine meiner Fragen beantworten würde.
    Während der Fisch über dem Feuer garte, verschwand sie im Wald, und als sie wiederkam, trug sie ein Bündel abgerissener Pflanzen, die sie neben das Feuer legte.
    Wir teilten den Fisch und holten in einer weggeworfenen Plastikflasche Wasser aus der Ostsee, die an dieser Stelle eigentlich ein Stück des Flusses Peene war und deshalb nicht salzig. Manche Leute sagten auch »das Achterwasser«, was schön klang und beinahe geheimnisvoll.
    »Dieses Wasser«, sagte ich, »ist das Beste, was ich seit Langem getrunken habe. Dieser Fisch ist das Beste, was ich seit Langem gegessen habe.«
    Um uns setzten sich die ersten blassen Sterne in die Bäume.
    »Ja«, sagte Olin, »mit dem Essen ist es wie mit dem Schlaf. Im Haus des schwarzen Königs hast du die Angst mitgegessen. Die Angst schmeckt bitter.«
    »Es ist nicht das Haus des schwarzen Königs«, widersprach ich leise. »Es ist das Haus meines Vaters. Er kommt wieder. Irgendwann.«
    Olin sah mich an. »Lion«, sagte sie. Und dann lange nichts. Und dann: »Es ist gut, dass du gekommen bist. Wirklich gut.« Und dann wieder lange nichts. Und schließlich: »Lion?«
    »Ja?«
    »Du weißt,

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