Worte der weißen Königin
fand keine Abschiedsworte. Abschiedsworte sind nutzlos, wenn man nicht plant, wiederzukommen.
Ich ging über den Hof und um das Haus herum, den Sandweg entlang, an den Ruinen vorüber, und dann begann ich zu rennen. Ich rannte den ganzen Weg bis zum Wald und weiter bis zu unserer Lichtung. Erst dort blieb ich keuchend stehen und sah mich um. Die Welt kam mir unendlich weit vor, sie ging hinter den Bäumen einfach immer weiter, und nirgendwo gab es Kellermauern oder verschlossene Türen. Es war ganz erstaunlich – zwischen den Kellermauern hatte ich mich gefühlt wie eine zerbrochene Puppe, und hier, in der Unendlichkeit, konnte ich auf einmal wieder rennen.
Ich vergaß alle blauen Flecken und alle Schrammen.
Ich war frei – frei wie mein Seeadler, frei wie alle Seeadler, frei wie der Wind. Ich hob den Kopf und sah meinen Adler über mir schweben, zwischen den hohen Wipfeln der duftenden Kiefern. Und plötzlich war es, als würde ich selbst dort oben schweben, und mir wurde schwindelig vor Glück.
Als ich aus dem Kellerfenster geklettert war, hatte ich nicht darüber nachgedacht, wohin ich gehen würde. Nur fort, fort, fort. Aber Rikikikri, mein Freund, war klüger als ich. Nachdem er mich eine Weile auf der Lichtung hatte ausruhen lassen, kam er nahe zu mir hinunter und stieß seinen Schrei aus: »Riii! Rikikrii!« Seine Flügelspitzen berührten meine Wange, ganz sanft nur, und dann stieg er wieder in die Luft auf und strich zwischen den Bäumen durch.
»Komm!«, schien er in seiner Adlersprache zu rufen. »Komm, Lion, komm!«
Er hatte recht, auf der Lichtung konnte ich nicht bleiben, denn dort würde der schwarze König zuerst nach mir suchen.
So folgte ich meinem Adler quer durch den Wald. Irgendwann stießen wir wieder auf den Deich. Dort oben war es leichter, vorwärtszukommen. Rikikikri flog vor mir her, die Küste entlang nach Osten, und ich lief ihm nach, über das Frühlingsgras.
Denn es war Frühling, als ich den schwarzen König verließ. April. Zwischen den Wurzeln blühten die Schneeglöckchen wie in dem Frühling, in dem ich die weiße Königin kennengelernt hatte. Und auf dem Meer, zur Linken des Deichs, blühten die weißen Schaumblüten der Wellen.
Draußen auf den Pfählen der Stellnetze hockten die schwarzen Kormorane, und von Zeit zu Zeit strich ein Graureiher über das Schilf.
Irgendwann hörte der Deich auf, der Wald reichte nun bis an den Schilfgürtel heran. Hier war er wilder und ungezähmter. Umgestürzte Bäume lagen kreuz und quer darin, und an einigen Stellen war der ganze Wald ein Sumpf, durch den ich waten musste. Dort wucherte ein Teppich aus gelben Blumen, und in den Ästen trällerten tausend Singvögel ihre Balzgesänge. Einmal blickte ich in die Augen eines verwunderten Rehs, das erst im letzten Moment floh. Ein andermal trotteten zwei schwerfällige Dachse direkt vor mir durchs Laub.
Ja, er war schön, der Wald, in den mein Adler mich geführt hatte, und dann landete er auf dem höchsten Baum dieses Waldes, einer uralten Esche.
Und ich verstand, weshalb er mich hergebracht hatte. Es war nicht nur, weil ich mich auf der Flucht vor dem schwarzen König befand. Dies war sein Wald, der Wald, der Rikikikri gehörte.
Dort oben, auf der uralten Esche, hatte er seinen Horst.
Es war ein riesiges Gebilde aus Hunderten von ineinander verkeilten Ästen, mehrere Meter weit. Der Horst musste alt sein, älter als Rikikikri. Ob er gegen den alten Besitzer dieses Horstes gekämpft hatte? Hatte er daher seine Verletzung am Flügel gehabt?
Ich sah, wie er sich über den Rand des Horstes beugte und zu mir herabblickte.
»Siehst du?«, schien er zu fragen. »Hier lebe ich. Dies ist mein Revier. Wenn du willst, teile ich es mit dir.«
»Ich weiß aber nicht«, sagte ich und lachte, »ob ich einen Horst in einem Baum errichten und Eier ausbrüten kann …«
»Kriii!«, rief mein Adler. »Rikrii!«
Er verließ den Horst und jagte über die Bäume davon, und ich setzte mich auf einen der umgekippten Bäume. Mein Adler würde wiederkommen. Ich hatte es nicht mehr eilig. Ich legte mich der Länge nach auf den Baumstamm, auf den Rücken, und schloss die Augen. Und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich keine Angst, als ich die Augen schloss. Ich würde nicht in einem Keller aufwachen. Ich würde nicht aufwachen, weil der schwarze König im Haus herumbrüllte. Ich würde …
Ich wachte auf, weil etwas Schweres, Nasses in mein Gesicht klatschte. Etwas Glitschiges. Ich fuhr
Weitere Kostenlose Bücher