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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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wusste, was sie sagen würde, wenn ich sie danach fragte.
    »Das gehört zu den Dingen, die ich im Wald gelernt habe.«
    Oder sie würde gar nichts sagen.
    Es gab so viel, was ich herausfinden musste.
    Ich schloss die Augen und sank zurück in den Schlaf. Am nächsten Morgen rieselten Olins Heilblätter aus meiner Kleidung,als ich mich aufsetzte. Meine Wunden taten beinahe nicht mehr weh, wenn ich sehr fest daran glaubte, dass sie beinahe nicht mehr wehtaten. Und die, die ich sehen konnte, die auf meinen Armen, begannen zu heilen.

6. Kapitel
    Einer, den ich kenne und doch nicht kenne
    M ein erster Tag in absoluter Freiheit begann bei Sonnenaufgang. Es war einfach zu kalt, um weiterzuschlafen. Ich rannte bis zum Wasser, um die Wärme in meinen Körper zurückzuholen. Und am Wasser, auf einer hohen Eiche, sah ich zwei Seeadler sitzen. Einer von ihnen war Rikikikri. Ich wollte ihn rufen, meinen Freund, doch da sah ich, dass am Stamm der Eiche eine hölzerne Leiter hochführte. Dort oben gab es einen Hochsitz, vermutlich, damit der Jäger die Wildschweine beobachten konnte, die durch den Schilfgürtel wanderten.
    Ich schlich mich durchs hohe grüne Frühlingsgras, das hier zwischen den Bäumen wuchs, und kletterte die Leiter hinauf. Die Adler hatten mich nicht bemerkt. Sie saßen in der breiten Astgabel gleich über dem Hochsitz und blickten gemeinsam aufs Wasser hinaus. Als ich beinahe oben war, sah ich, wie sie ihre Hälse aneinanderschmiegten. Der Horst in der Esche gehörte Rikikikri also nicht allein. Mein Adler hatte ein Weibchen gefunden.
    Ich kletterte auf den Bretterboden des Hochsitzes. Ich war den beiden jetzt so nah, dass ich den Flaum ihrer Federn imweißen Gegenlicht sah. Wie sehr würde mein Adler sich freuen, wenn er mich sah!
    Ich räusperte mich, denn ich wollte die beiden in der Astgabel nicht erschrecken.
    Sie wandten die Köpfe und sahen mich an, und ich streckte die Hand aus nach meinem Adler. Doch der andere Adler, das Weibchen, stieß einen heiseren Schreckensschrei aus und erhob sich mit panischen Flügelschlägen in die Luft.
    »Aaaak!«, schrie sie, »aarak-rak-raaaak!«
    Es klang, als hätte ich sie verletzt. Auch Rikikikri erhob sich und flog davon, und ich stand allein auf dem Hochsitz. Ich sah, wie die beiden gemeinsam über den heller werdenden Himmel segelten, und ich fühlte mich sehr klein und sehr allein.
    Auf dem Wasser glänzte das Morgenlicht, es war, als läge flüssiges Licht zwischen dem Schilfgürtel und der Insel Usedom gegenüber. Zwei Schwäne waren in dem flüssigen Licht unterwegs. Alles war wunderschön. Doch Schönheit, über die man mit keinem reden kann, ist nutzlos und dumm.
    Da hörte ich über mir ein Rauschen wie von Flügeln, und gleich darauf landete mein Adler wieder in der Astgabel der Eiche.
    »Rrrrii«, sagte er bedauernd. »Rikikikriiii.«
    Ich vergrub mein Gesicht in seinem Gefieder, und er ließ es zu. Er sprach zu mir mit einem leisen, tröstenden Gurren.
    »Du musst sie verstehen«, sagte er – oder jedenfalls glaube ich, er sagte das. »Sie ist nicht gezähmt worden. Nur ich bin gezähmt worden.«
    Er hatte recht. Die anderen Seeadler würden mich immer fürchten, denn ich war ein Mensch. Ich konnte niemals mit ihnen fliegen. Hatte ich nur geträumt, dass Olin geflogen war?
    An jenem Morgen wanderte ich lange durch den Wald. Rikikikri begleitete mich ein Stück, und er schenkte mir wieder einen Fisch, aber irgendwann flog er fort. Sicher wartete sein Weibchen auf ihn. Ich beschloss, sie Aarak zu nennen, wie der Laut, den sie gerufen hatte.
    Ich fand einen Wasserkanal und eine gemauerte Brücke, auf die ich mich setzte, und ließ die Beine baumeln. Ich fragte mich, ob ich den Fisch roh essen sollte. Ich wusste nicht, wo Olin ihr Feuerzeug versteckte.
    »Na, da ist es doch ein Glück, dass ich es weiß«, sagte Olin neben mir.
    Ich machte vor Schreck so etwas wie einen Satz nach vorn – und landete im Kanal zwischen den Schilfhalmen. Der Kanal war nicht tief. Als ich wieder hochkam, stand Olin oben auf der Brücke und bog sich vor Lachen.
    »Du … du hast …«, prustete sie. »Du hast ein Vogelnest in den Haaren!«
    Ich griff auf meinen Kopf. Tatsächlich. Ich musste beim Auftauchen ein Nest mitgerissen haben, das ein Vogel ins Schilf gebaut hatte. Es war voller kleiner, gesprenkelter Eier. Da musste ich auch lachen. Ich setzte das Nest behutsam zwischen ein paar unversehrte Halme, und Olin zog mich aus dem Kanal. Wir fanden auch den toten Fisch

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