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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Westen.«
    »Touristen«, sagte ich.
    »Die aus dem Mercedes, ja«, sagte Olin. »Den Landrover habe ich hier schon gesehen. Im Wald. Dort geht der Mann auf die Jagd.«
    »Und ich wette, er hat einen Jagdschein«, sagte ich bitter, »und eine Erlaubnis und alles. Und er kann so viele Hasen abschießen, wie er möchte, und alle dürfen es wissen.«
    Olin sah mich an, und ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht.
    »Hey, Lion«, sagte sie. »Da war sie ja.«
    »Wer?«, fragte ich verwirrt.
    »Die Wut«, sagte Olin. »Es ist wahr: Du lernst schnell.«
    Sie stand auf, zog eine alte Plastiktüte aus ihrer Hosentasche und packte den verschimmelten Käse und den angebrannten Kuchen hinein. Es war mir peinlich, aber als sie das harte Brot auch in die Tüte stecken wollte, legte ich meine Hand darauf.
    »Können wir es nicht jetzt gleich essen?«, fragte ich.
    »Von mir aus«, sagte Olin und holte den scharfen Stein heraus, mit dem sie den Fisch ausgenommen hatte. Er war nicht scharf genug, um das harte Brot zu schneiden.
    »Es wäre wirklich gut, ein Messer zu haben«, sagte sie. »So eines wie die, die dein Vater auf der Jagd benützt hat.«
    »Unser Vater«, sagte ich.
    Doch Olin schüttelte den Kopf. »Mein Vater ist er schon lange nicht mehr«, sagte sie.
    Ich ging zwischen den Gräbern mit ihren Blumen hindurch. Die Platten waren dieselben. Die Platten des Weges. Elf Schritte zur Kirche. Ich schluckte.
    »Ich muss da rein«, sagte ich und hatte das Brot vergessen. »In die Kirche.«
    »Jetzt?«, fragte Olin. »Sie sind da drin. Die Leute mit den Autos. Willst du, dass sie dich fragen, wer du bist und weshalb du so aussiehst?« Sie schnaubte. »Sag ihnen besser gleich, du wärst mit dem Kopf voran in einen Flaschencontainer gesprungen und hinterher in eine Schlägerei geraten. Ich meine, zuzutrauen wäre es dir.«
    Ich trat ganz nahe an sie heran.
    »Olin«, sagte ich, »hör mir zu. Ich muss nachsehen, ob die Klappstühle noch dastehen. Wenn sie dastehen, dann hat die weiße Königin vielleicht vor, wiederzukommen. Mein Vater hat gesagt, sie sei gestorben. Ich muss herausfinden, ob das stimmt. Ich habe ihre Worte gesucht, denn ich habe so viele davon vergessen. Die weiße Königin brauchte keine Wut, sie war so sanft wie der Schnee und das Abendlicht …«
    »So«, sagte Olin, »war sie das? Und was haben dir ihre Sanftmut und ihre Worte gebracht? Haben sie dich jemals wirklich geschützt?« Sie schüttelte den Kopf. »Dein Vater hatte unrecht. Die weiße Königin ist nicht gestorben. Weil sie nie gelebt hat. Du hast sie dir ausgedacht, Lion. Sie war nicht wirklich. Du warst nie in dieser Kirche.«
    »Doch!«, rief ich und erschrak und sprach leiser. »Das war ich! Viele, viele Male! Ich weiß genau, wie es drinnen aussieht! Da ist ein Mittelgang, und die Kirchendecke ist mitBrettern geflickt, und vorn liegt ein abgewetzter roter Teppich.«
    Ich öffnete die Kirchentür ganz leise und schlüpfte hindurch. Die Erwachsenen standen vorn beim Altar und sahen sich eine Steintafel an der Wand an. In der Kirche, an die ich mich erinnerte, hatte es keine Steintafel gegeben. Wie viele Jahre war das her? Hatten sie die Kirche in der Zwischenzeit irgendwie … repariert?
    Ich blickte zur Decke. Die Decke bestand aus dicken, heilen Balken, verziert mit gelben und blauen Blätterranken und einzelnen Engelsgesichtern. Es gab einen Mittelgang. Aber vermutlich gibt es den in jeder Kirche. Vor dem Altar lag kein abgewetzter, roter Teppich. Nirgendwo standen Klappstühle. Durch die Fenster fiel buntes Licht herein. Meine Kirche hatte keine bunten Glasfenster besessen.
    Hatte Olin recht? War ich nie hier gewesen?
    Der Junge mit dem MP3-Player stand hinten, in der Nähe der Tür, vor einem Postkartenständer. Unnötig zu erwähnen, dass ich mich an keinen Postkartenständer erinnerte. Ich ging den Mittelgang entlang und versuchte zu fühlen, was ich damals gefühlt hatte. Ich schloss die Augen und stellte mir die weiße Königin vor, die vor dem Altar auf einem Klappstuhl saß, in ihrem Mantel, und mir entgegenlächelte. Ich ging den Gang entlang auf sie zu, streckte die Hand aus – und stieß an jemanden. Als ich die Augen öffnete, war es der Mann, der aus dem Landrover gestiegen war. Der, der im Wald auf die Jagd ging. Er trug eine randlose Brille und hatte einen grünen Wollschal um den Hals. Ich hasste ihn.
    »Himmel!«, sagte er.
    »Guten Tag«, sagte ich.
    Der Mann legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich hasste seine

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