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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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wieder. Olin briet ihn bei unserer Feuerstelle.
    »Wo warst du?«, fragte ich.
    »Hier und dort«, antwortete sie. »Warum? Bin ich dein Babysitter? Hör mal … auf die Dauer kann kein Mensch nur von Fisch leben.«
    »Wovon lebst du ?«, fragte ich.
    Sie stand auf und trat das Feuer aus. »Komm mit.«
    Olin führte mich fort vom Wasser, um die sumpfigen Stellen herum, durch jungen Farn und über Teppiche von gelben Dotterblumen. Wie leise sie auftrat! Ihre Schritte waren kaum zu hören. Als wir aus dem Wald traten und über eine Kuhweide liefen, sahen die Kühe mich mit verwunderten Augen an. An Olin waren sie wohl gewöhnt. Schließlich erreichten wir eine Mauer aus großen runden Feldsteinen. Dahinter lag eine kleine alte Kirche.
    »Was ist das für eine Kirche?«, fragte ich. »Sind wir … in Wehrland herausgekommen?«
    Olin nickte, und da wurden meine Hände ganz feucht vor Aufregung.
    »Ich war hier«, flüsterte ich. »In dieser Kirche. Schon oft. Hier bin ich der weißen Königin begegnet. Hier hat sie uns vorgelesen. All diese Worte! Sie waren so … wunderbar …«
    Sie musterte mich, und ich sah, was sie dachte. Sie dachte, ich wäre verrückt. Sie verstand nicht, was an Worten wunderbar sein konnte.
    »Auf jeden Fall«, sagte sie, »kann man hier etwas Essbares finden.«
    Sie zeigte mir eine kleine Hintertür in der Mauer, über die man leicht klettern konnte, wenn man nicht am vorderen Tor gesehen werden wollte. Die Ecke des Friedhofs, in der die Hintertürlag, war von Bäumen beschattet, dunkel und geheim, und in dieser geheimen Ecke stand ein Holzgitterviereck voller verwelkter Blumen. KOMPOST stand in schiefen, wackeligen Buchstaben auf einem Brett daneben. BITTE NUR GARTENABFÄLLE las ich.
    »Haben wir Glück«, meinte Olin grinsend, »dass sich da niemand dran hält!«
    Sie deutete zu den drei Häusern, die sich um die Kirche scharten. »Die Leute von dort schmeißen alle möglichen Sachen hier drauf. Und nachts kommen die Füchse und die Waschbären. Ich habe sie beobachtet. Wir sind nicht besser und nicht schlechter als sie.«
    Sie beugte sich über das Holzgitter und begann tatsächlich, mit beiden Händen zwischen den verwelkten Blumen zu graben.
    »Hier«, sagte sie nach einer Weile und hielt ein halbes Brot hoch. »Es ist ein wenig hart. Na, was macht es schon aus, hartes Brot zu essen, solange man Brot hat? Und hier haben wir ein ziemlich großes Stück Käse. Es ist ein wenig Schimmel daran. Na, was macht es schon aus, schimmeligen Käse zu essen, solange man Käse hat?«
    Ich schüttelte mich. Aber sie hatte recht. Alles war besser als zu verhungern. So schluckte ich meinen Ekel hinunter und begann, mit Olin den Kompost zu durchsuchen. Wie die Füchse und die Waschbären.
    »Hier«, sagte ich triumphierend. »Sieht aus, als hätte jemand ein Stück angebrannten Kuchen weggeworfen. Aber was macht das Angebrannte schon aus, solange man Kuchen hat?«
    Olin lachte. »Du lernst schnell.«
    Dann drückte sie mich plötzlich auf den Boden hinter dem Kompost.
    »Psst!«, flüsterte sie.
    Wenn ich vorsichtig um die Ecke lugte, konnte ich die Gräber sehen und das Eingangstor. Es sah anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Irgendwie kleiner und weniger eindrucksvoll. Die Eisenstäbe waren überhaupt nicht verschnörkelt, wie ich gedacht hatte, sondern ganz gerade. Vor dem Tor parkten zwei Autos: ein großer dunkelgrüner Landrover und ein silberner Mercedes. Die Leute aus den Autos kamen jetzt durch das Tor und gingen den Weg zwischen den Gräbern entlang. Bei dem Glockenstuhl neben der Kirche blieben sie stehen. Glockenstuhl? Hatte es damals einen Glockenstuhl gegeben?
    Die Leute gingen weiter, in die Kirche. Sie trugen Pullover und Windjacken, Jeans und praktische Schuhe, aber ich sah sofort, dass es gute Windjacken und gute Schuhe waren und dass sie eine Menge Geld gekostet hatten. Bei den Leuten war ein Junge, der vielleicht so alt war wie ich. Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben und die Stöpsel eines MP3-Players in den Ohren und schlenderte gedankenverloren hinter den Erwachsenen her. Seine Haare waren blond und durcheinander. An den Knien hatte seine Jeans Löcher. Dabei hätte er sich eine anständige Frisur leisten können, und die Jeans war zu wertvoll, um Löcher hineinzumachen. Irgendwie ärgerte es mich, wie unbedacht dieser Junge mit seinen Sachen umging.
    »Sieh sie dir nur gut an«, flüsterte Olin neben mir. »Das sind die reichen Leute, die Leute aus dem

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