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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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ich mich an die Mauer presste, und sie würden mich in ihr Auto zerren und zurückbringen zu dem Mann, den sie für meinen Vater hielten – eine Hand schloss sich um die meine. Ich öffnete die Augen. Vor mir stand Olin. Ihre Lippen formten ein lautloses Wort: Lauf.
    Dann zog sie mich mit sich fort, und meine Füße, die mir nicht gehorchten, gehorchten meiner Schwester. Sie liefen. Ich tauchte hinter Olin in ein lange verblühtes Rapsfeld wie in ein braunes Meer. Als sich die Wogen des Rapsfeldes um uns schlossen, hörte ich, wie der Mann seinen Hund rief. Den großen schwarzen Hund. Der große schwarze Hund hörte nicht auf ihn.
    Der große schwarze Hund hatte sich losgerissen und war uns auf den Fersen.

10. Kapitel
    Spiegelscherben
    W ir rannten geduckt durch das riesige Feld, hinter uns das Kläffen des Hundes, dichter und dichter. Wir schlugen Haken wie Kaninchen. Und schließlich spuckte der Raps uns wieder aus, irgendwo weit hinter Wehrland. Da war eine Wiese, da war ein Stück Straße, und Olin rannte auf die Straße zu.
    »Nein!«, schrie ich. »Olin!« Ich wollte schreien: Da kommt ein Auto!
    Doch dazu reichte meine Luft nicht. Olin griff im Laufen wieder nach meiner Hand und zog mich mit sich auf die Straße. Das Auto raste direkt auf uns zu. Es war zu schnell. Wir waren zu langsam.
    Olin riss mich weiter.
    Bremsen quietschten.
    Da war ein Wirbel aus Metall und Reifen und Hupen.
    Ich machte einen letzten, verzweifelten Satz – von der Straße ins Gebüsch auf der anderen Seite, wo wieder der Wald begann. Dort blieb ich liegen und rang nach Atem.
    Ich war allein. Olin war nicht mehr neben mir.
    »Oh Gott«, sagte jemand auf der Straße: der Fahrer desAutos. Ich hatte es geschafft, aber er musste Olin erwischt haben, Olin, die mich mit sich fortgezerrt hatte. In mir wurde alles ganz kalt, als wäre mein Herz ein Eisblock. Ich setzte mich auf und schob die Zweige beiseite. Das Auto stand am Straßenrand, mit blinkender Warnlichtanlage. Davor kniete eine Frau auf der Straße, über einen Körper gebeugt, der am Boden lag. Es war der Körper des schwarzen Hundes.
    Ich sah, wie er eine Hinterpfote bewegte. Er lebte, aber er war verletzt. Hoffentlich starb er nicht. Ich wollte nicht, dass irgendwer starb. Sterben war eine zu schreckliche Sache.
    Wo war Olin?
    Ich bin überall und nirgendwo, hatte sie gesagt.
    Ich stand leise auf und lief davon, in den Wald hinein, nach überall und nirgendwo. Nach Berlin. Niemand folgte mir.
    Ich wanderte den ganzen Tag. Nach Berlin zu wandern ist einfach. Man muss nur vom Meer weggehen, immer nach Süden, das wusste ich aus der Schule. Mit dem Zug dauerte es zwei oder drei Stunden, hinzukommen.
    Im Wald fuhr kein Zug.
    Irgendwo stieß ich auf die Landstraße nach Anklam, die schnurgerade zwischen den Bäumen lief. Sie lief vom Meer weg, nach Süden. Und ich wanderte an ihr entlang, damit ich sicher sein konnte, nicht vor lauter Nervosität die Richtung zu verlieren. Jedes Mal, wenn ein Auto auf der Straße vorbeifuhr, warf ich mich auf den Boden.
    Zweimal war es ein Polizeiauto, silbern mit grünen Streifen.An diesem Tag wurde Silbern-mit-grünen-Streifen zur furchtbarsten Farbe der Welt.
    Manchmal raschelte es hinter mir, und dann begann ich zu rennen und wieder Haken zu schlagen. Ich wusste nie, ob es nur ein Reh war oder eine Amsel, oder ein Igel – oder ob die Polizisten und der Mann mit dem Hund meine Spur doch noch gefunden hatten. Ich wusste nicht mal, ob sie wirklich gesehen hatten, dass ich es war, hinter dem der Hund hergelaufen war.
    Aber ich wusste, dass der schwarze König nicht ruhen würde, bis sie jeden Quadratmeter Wald durchkämmt hatten, bis sie jeden Stein nach mir umgedreht und hinter jeden Baum gesehen hatten. Vielleicht, dachte ich voller Schrecken, reichte es nicht einmal, nach Berlin zu gehen. Vielleicht musste ich noch viel weiter fortgehen, wenn ich vor dem schwarzen König und seinen Polizisten sicher sein wollte – vielleicht bis ans Ende der Welt.
    Als es dämmerte und meine Beine sich weigerten, noch einen einzigen Schritt zu gehen, kletterte ich auf einen Hochsitz am Rand eines Feldes. Der Wald war hier zerrissen in viele kleine Ausläufer und Stückchen, überall dazwischen gab es Felder voller Raps und Weizen und Mais, und jeder Waldrand war gesäumt von Hochsitzen für die Jäger – lauter wunderbaren Schlafplätzen, regendicht und trocken, mit Fenstern, durch die man von Weitem sehen konnte, ob jemand sich näherte.
    Erst als ich

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