Worte der weißen Königin
auf der kleinen Bank saß, fiel mir auf, dass ich den ganzen Tag über nichts gegessen hatte. In meinem Rucksackwar nur die Wasserflasche mit einem Rest Achterwasser. Seltsam, dachte ich, vor Kurzem wäre ich beinahe in diesem Wasser ertrunken. Als ich es jetzt austrank, war es, als zerrisse die letzte Verbindung zu meinem Leben mit den Seeadlern.
Ich wollte an die weiße Königin denken und daran, wie es wäre, wenn ich bei ihr ankäme. Aber das würde noch unendlich lange dauern, und ihr Bild in meinem Kopf war ganz verschwommen, so lange war es her, dass ich sie gesehen hatte. Das Bild meines Seeadlers war noch gestochen scharf in mir.
Das Weizenfeld, das vor meinem Hochsitz lag, war blau von Kornblumen, dunkelblau wie Wasser. Wenn eine Bö über die Kornblumen strich, beugten sie sich alle gleichzeitig und bildeten Wellen, und in der Dämmerung konnte man sich beinahe einbilden, man säße wirklich am Wasser. Der Wald auf der anderen Seite des Feldes war die Insel Usedom, und dies war der Hochsitz in der Eiche, und gleich, gleich würde mein Adler aus dem Himmel herabgesegelt kommen und seinen Ruf ausstoßen: Rii! Rikikikriii!
Ich schloss die Augen, um an ihn zu denken. Um wieder vor mir zu sehen, wie er durch den peitschenden grauen Regen aufstieg, als ich ihn aus dem Netz befreit hatte. Ich hörte das Rauschen dieser Schwingen, ich spürte den Lufthauch … und dann berührte mich etwas am Arm. Ich öffnete die Augen.
Und da saß er, mein Adler. Genau vor mir, auf dem Rand des Fensters.
»Du … du bist nicht wirklich hier, oder?«, flüsterte ich. »Ich bin nur eingeschlafen und träume dich.«
»Rrri!«, sagte er und sah mich an – und ich verstand.
»Natürlich bin ich hier«, sagte er. »Dachtest du denn, ich lasse meinen besten Freund allein fortziehen? Du hast mich gerettet, ich habe dich gerettet. Wir gehören zusammen.«
Dann hopste er vom Fenster ins Innere des Hochsitzes, und als ich mich auf dem Boden zusammenrollte, ließ er sich neben mir nieder und breitete einen Flügel über mich wie eine Decke. Und plötzlich war meine Angst verschwunden. Die Polizisten würden mich nicht finden. Der schwarze König würde mich nicht zurückholen. Und ich würde den richtigen Weg zur weißen Königin nicht verlieren, auch wenn ich durch den dichtesten Wald ging. Nicht, solange mein Rikikikri bei mir war. Mein Herz war plötzlich leicht und froh, als flöge es auf Adlerschwingen, und ich schlief ruhig in dieser Nacht.
Sieben Tage lang wanderte ich landeinwärts. Sieben Tage lang versteckte ich mich beim geringsten Geräusch, während Rikikikri über mir dahinflog. Sein riesiger Schatten begleitete mich wie ein treuer Hund. Sieben Nächte lang schlief ich in Hochsitzen, und sieben Nächte lang breitete mein Adler seine Schwingen über mich, damit ich nicht fror. Nach sieben Tagen glaubte ich, sicher zu sein. Sicher genug, um mir eine Pause zu erlauben. Oh, wie ich mich täuschte!
Wir waren in ein Gebiet gekommen, das von Seen und kleineren Waldstücken durchzogen war; es gab kaum Straßen.Nur die Eisenbahngleise zogen sich schnurgerade hindurch: die Eisenbahngleise nach Berlin. Sie waren wie ein Seil, an dem man sich festhalten konnte.
In der Eisenbahn waren natürlich Leute, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Polizisten den ganzen Tag mit der Bahn hin und her fuhren und aus dem Fenster sahen, um einen weggelaufenen Jungen zu finden.
So beschlossen wir, eine Weile zu rasten. Nur einen Tag oder zwei. Wir fingen Fische in einem der Seen, ich mit meiner Angel und Rikikikri mit seinen Klauen. Seit Langem machte ich wieder ein Feuer, und seit Langem aß ich mich wieder satt. Am Abend versteckte ich mich nicht auf einem Hochsitz. Ich lag im Gras und sah in die Sterne, und ich dachte an die Worte der weißen Königin und sagte sie leise vor mich hin.
Und Jocke Kis, der nicht ganz richtig war im Kopf, sagte, dass er, als die Linde klang, nur eine einzige Stimme gehört habe. Und die flüsterte: Ich bin es, Malin.
»Fühl dich bloß nicht zu sicher«, sagte Olin.
Ich fuhr auf. Da saß sie im Schneidersitz neben den Resten meines Feuers und schüttelte den Kopf, und ihr Haar flog um sie herum wie eine wilde Pferdemähne.
» Du … du bist hier?«, fragte ich.
Olin grinste. »Nein«, sagte sie, »das bildest du dir nur ein.«
»Haha«, machte ich. »Wo warst du, nach der Sache mit dem Hund, auf der Straße? Bist du uns gefolgt? Du willst doch nicht, dass ich nach Berlin
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