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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Hunden. Ich legte meine Arme um ihn und vergrub mein Gesicht in seinem Federkleid, wie ich es so oft getan hatte.
    »Oh, mein Rikikikri«, sagte ich. »Ich muss gehen, hörst du? Ich muss dich verlassen, dich und Aarak und das Wasser und unseren Wald. Aber ich komme zurück. Irgendwann. Wenn ich die weiße Königin gefunden habe. Ich komme zurück und zeige ihr den Flug der Adler, ich …«
    Meine Worte wurden schleppend und zäh wie Kiefernharz, denn ich wusste nicht, ob sie wahr waren.
    »Leb wohl«, sagte ich schließlich, denn auch Auf Wiedersehen wäre womöglich eine Lüge gewesen, und Adler spüren, ob man lügt. »Leb wohl, mein Rikikikri.«
    Ich wanderte durch den Wald bis nach Wehrland, wo die Kirschen hinter der Friedhofsmauer reif waren. Ich wollte noch einmal ein paar Hände voll pflücken und in den Rucksack packen, für meine Wanderung.
    Doch ich kam nicht zum Kirschenpflücken.
    Als ich um die Friedhofsmauer herumging, sah ich, dass neben der alten Kirche drei Polizeiwagen standen. Und jetzt hörte ich auch, wie beim Friedhofstor Leute durcheinanderredeten. Ich presste mich mit dem Rücken an die Mauer und versuchte, möglichst nicht zu atmen. Die Schläge meines Herzens dröhnten in meinen Ohren wie die beiden mannsgroßen Glocken in ihrem Glockenstuhl neben der Kirche, und ich dachte, es wäre laut genug, um einen Gottesdienst einzuläuten.
    Statt vor ihnen zu fliehen, war ich den Polizisten genau in die Arme gelaufen.
    Ich wusste, ich hätte auf dem gleichen Weg zurückschleichen sollen, ein Stück um die Mauer herum, und dann verschwinden, doch ich konnte nicht. Es war wie damals auf unserem Hof, damals, als der schwarze König zum ersten Mal den Strick gebraucht hatte. Meine Beine waren plötzlich so fest mit dem Untergrund verbunden wie zwei Baumstämme. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Stimmen.
    Manche kannte ich. Eine gehörte dem Mann, dem mein Vater damals wilde Hasen verkauft hatte. Er sagte, er wüsste nichts, von gar nichts, und was die Polizei von ihm wollte, und sie sollten bloß ihre Hunde festhalten. Da waren ein paar andere Stimmen von Leuten aus dem Dorf, die ähnlich klangen: ängstlich und abwehrend. Mein Vater hatte einmal gesagt, die Leute hätten diese Angst vor der Polizei von früher, von Vor-der-Wende, aber ich wusste nicht, was das hieß, und ich würde meinen Vater wohl nie mehr fragen können. Meineeigene Angst vor der Polizei stammte nicht von früher. Sie war frisch und scharf wie ein neues Jagdmesser.
    »Mich hat noch niemand gefragt«, sagte eine andere Stimme jetzt, laut und deutlich und frei von Angst. »Ich weiß nicht, ob das der Junge war. Aber im April, als wir mit ein paar Freunden hier waren, da kam ein Kind in die Kirche … das ich nie vergessen werde.«
    Ein Kind, dachte ich, und es tat irgendwie weh, dieses Wort zu hören, denn es war ein Wort, das in die Bücher der weißen Königin gehörte. Die Kinder in diesen Büchern rannten über Wiesen und spielten Fußball und aßen Pfannkuchen. Sie verbrachten ihre Zeit nicht damit, Komposthaufen zu durchwühlen.
    »Das Kind sah aus, als sei es auf der Suche nach etwas, das man niemals wiederfinden kann«, sagte der Mann.
    Er hatte recht. Ich hatte die weiße Königin gesucht, damals, als ich mit ihm gesprochen hatte. Es war der Mann aus dem Landrover, der Mann, der Hasen schießen durfte.
    Der Mann, den ich hasste. Jetzt hasste ich ihn dafür, dass er mich verriet – obwohl seine Stimme nicht klang, als verrate er jemanden. Sie klang nachdenklich. Ich hasste ihn trotzdem.
    »Und es war verletzt. Erinnerst du dich?«
    »Ja«, sagte eine jüngere Stimme, »ich glaube.«
    Es war der Junge mit dem MP3-Player. Er hatte mich gestern gesehen, in seinem eigenen Garten. Er wusste genau, dass ich noch in der Gegend war.
    »Warum suchen Sie ihn?«, fragte der Junge. Er fragte es auf eine vorsichtige Weise, wie die Leute aus dem Dorf, und das wunderte mich.
    Ein Polizist sagte, dass mir vielleicht etwas zugestoßen sei und dass ich seit April fort sei, und der Mann fand, dass es verwunderlich war, dass es meinem eigenen Vater erst im Juni auffiel, dass ich im April verschwunden war. Das begriff ich auch nicht.
    In diesem Augenblick bellte ein Hund. Ich erkannte das Bellen. Es war keiner von den Polizeihunden. Es war der große schwarze Hund vom Haus auf den Klippen. Vielleicht hatte er mich gewittert. Er würde sie zu mir führen.
    Ich atmete tief ein. Gleich würden sie mich finden, egal, wie flach

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