Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
Vom Netzwerk:
gehe, oder? Dass ich die weiße Königin finde? Du kannst sie nicht leiden.«
    »Tja, aber jemand muss wohl auf dich aufpassen, kleiner Bruder«, sagte sie und drückte mich sacht zurück auf mein Bett aus Gras. »Schlaf jetzt. Aber schlaf nicht zu tief. Schlaf wie die Hasen, nur mit einem Auge. Der schwarze König gibt nicht so schnell auf.«
    »Bleibst du hier?«, flüsterte ich.
    »Ja und nein«, antwortete Olin.
    Ich wollte sie fragen, was das bedeutete: ja und nein, überall und nirgendwo. Doch ehe ich fragen konnte, fielen meine Augen zu, beide Augen, und ich schlief ein. Viel zu tief.
    Der Nebel hing noch im hohen Gras und über den Seen, als ich aufwachte. Das Sonnenlicht stieg rot am Horizont auf und malte blasse Striemen an den Himmel wie Narben. Olin war fort. Ich glaubte, die schwarze Silhouette meines Adlers hoch oben in der Morgendämmerung zu sehen, doch sie war zu weit fort, um sie genau zu erkennen.
    Etwas hatte Rikikikri aufgescheucht, etwas hatte ihn weit, weit hinaufgetrieben. Etwas war hier. Ich spürte es. Ein Zittern lag in der Luft. Die Vögel schwiegen.
    Und dann flog ein Eichelhäher kreischend in der Nähe auf: der Warnvogel des Waldes. Dort, wo er herkam, raschelte es in den Sträuchern – es raschelte nicht wie ein Lebewesen, sondern wie viele. Ich griff meinen Rucksack und rannte geduckt durch Gras, Schilf und Büsche, zwischen zwei Seen hindurch. Vor mir fing irgendwo wieder ein größeres Stück Wald an. Ich wusste nicht, was sich hinter mir näherte, aber ich wusste, dass ich diesen Wald erreichen musste. Er war weiter fort, alsich dachte. Einmal blieb ich stehen, im Schutz eines Holundergebüsches, und blickte mich um.
    Ich hatte gehofft, dass es nur ein Rudel Damwild war, das ich gehört hatte, oder eine Bache mit ihren Frischlingen – dass ich mich über mich selbst und meine Panik totlachen würde.
    Doch was da hinter mir durchs hohe Gras ging, war kein Damwild. Es waren zwei Männer in grüner Kleidung. Polizisten. Ich entdeckte noch einen dritten, einen vierten … drei von ihnen hielten Hunde an der Leine. Die Polizisten hatten eine Kette gebildet und kamen über die Wiese auf mich zu. Sie waren ein lebendiges Stellnetz, an dem man nicht vorbeikonnte.
    Aber sie hatten mich noch nicht gesehen.
    Jemand anders, dachte ich, musste mich gesehen haben, jemand musste ihnen gesagt haben, dass ich irgendwo hier war. Das Seltsame war, dass sie sich nicht bemühten, besonders leise zu sein. Zwei von ihnen trugen orangefarbene Warnwesten wie Straßenarbeiter, und sie schlugen mit Stöcken auf das hohe Gras, dass es nur so zischte. Vor meinen Augen verwandelten sich die Stöcke in raue Stricke; ich zuckte bei jedem Hieb zusammen, und ich wusste: Ich musste mich umdrehen und weiterlaufen, sonst würden meine Beine wieder am Boden festwachsen. Die Angst ließ mich Dinge sehen.
    Ich duckte mich noch tiefer und rannte von Strauch zu Strauch, von Deckung zu Deckung – und schließlich hatte ich den Wald erreicht. Seine dunklen Schatten begrüßten mich freundlich, doch ich blieb nicht stehen. Ich musste weiter, ichmusste die Männer loswerden … Kein Busch, kein Schatten hier schien mir sicher genug. Ihre Stöcke würden in jedem Versteck herumstochern, ihre Hunde jede Fährte wittern. Jetzt, jetzt hörte ich sie, sie waren im Wald. Sie waren näher als zuvor. Das Hecheln und Geifern der Hunde klang, als flüsterte jemand hämische Worte: Du entkommst uns nicht, du wirst schon sehen, renn nur fort, du gehörst uns …
    Ich hielt mir die Ohren zu und rannte weiter zwischen den Bäumen hindurch. Himbeerranken griffen nach meinen Hosenbeinen und zerrissen den Stoff, zerrissen die Haut meiner Beine, doch ich kümmerte mich nicht darum. Ich rannte jetzt seitwärts, versuchte, das Ende des lebenden Netzes zu finden – den letzten Polizisten, neben dem keiner mehr ging. Ich fand keinen letzten. Das Netz schien endlos zu sein. Und auf einmal begriff ich, warum sie solchen Lärm machten:
    Sie wollten mich nicht einfangen. Sie trieben mich in eine bestimmte Richtung.
    Als ich das dachte, zerbarst die Spannung, die ich die ganze Zeit über in der Luft gefühlt hatte. Sie explodierte in einem lauten Knall. Nein. Mit einem Schuss. Ich hörte das Sausen der Kugel, so nah war sie mir. Ich wandte den Kopf und sah in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Dort stand ein Hochsitz, so einer wie der, auf dem ich geschlafen hatte. Mit einem Satz war ich hinter dem nächsten Baum. Ein zweiter

Weitere Kostenlose Bücher