Worte der weißen Königin
Oder hatte das Unwetter auch sie gefällt? Das letzte Stück zu meinem Schlafplatz rannte ich. Es war beinahe dunkel.
Doch ich sah die Umrisse der alten Esche noch. Sie stand, fest verwurzelt, seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten, und hatte sich von dem Sturm nicht beeindrucken lassen. Ich atmete auf. Der Boden unter der Esche aber war durchweicht wie ein Schwamm. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass die Stelle in einer leichten Senke lag, aber solche Dinge fallen einem ja immer zu spät ein. Bisher hatte es nie mit solcher Macht geregnet, und wenn es geregnet hatte, hatte ich stets die Decke als Zelt aufgespannt. Jetzt lag sie wie ein nasser Lappen in einer der Pfützen. Mein Schlafplatz bestand nur noch aus Matsch.
Ich war so müde. So unendlich müde.
Oben im Adlerhorst hörte ich das leise Rascheln von schlafendem Gefieder. Und da kletterte ich auf die Esche. Ich war noch nie dort hinaufgeklettert, denn die Esche gehörte Rikikikri und Aarak und ihren Jungen, nur ihnen und niemandem sonst. Aber an diesem Abend war ich zu nass und zu kalt und zu müde, um mich darum zu kümmern.
Die Esche hatte die dicksten Äste weit und breit, und vielleicht konnte ich in einer ihrer Astgabeln schlafen. Es wäre kein bequemes Bett, aber was machte das schon, solange man ein Bett hatte!
»Riii!«, hörte ich es leise aus dem Adlerhorst rufen, »kikriii! Komm, komm!«
Da kletterte ich noch ein wenig weiter, und dann sah ich, wie groß der alte Horst war. Er war sicher zwei Meter breit und sehr tief. Die fünf Adler darin rückten zur Seite, als sie mich kommen sahen. Nicht, weil sie Angst hatten. Nein, sie machten mir Platz.
Niemand, niemand wird mir das glauben, doch in jener Nacht schlief ich in einem Seeadlerhorst. Ich zog meine nassen Kleider aus und rollte mich nackt zwischen den Ästen zusammen, zwischen Grasbüscheln und Fischgräten und Federpolstern. Die fünf Seeadler schmiegten sich an mich wie Katzen; sie setzten sich auf mich und um mich herum und wärmten mich mit ihren großen Körpern wie ein großes lebendiges Federbett.
Und ich dachte, dass wir an diesem Tag eine Menge damit zu tun gehabt hatten, einander vor irgendetwas zu retten. Und dass es dafür ein guter Abschluss war. Ich träumte wieder von Olin, die mit den Adlern flog. Doch diesmal schwebte auch ich im Traum unter dem Mond dahin. Ich war ein Adler. Ich wusste, wohin wir flogen, endlich: Wir flogen zur weißen Königin.
Sie saß auf einer Bank, mitten in der Stadt, und streckte ihre Arme nach uns aus.
Ich erwachte von Hundegebell.
Zuerst dachte ich, das Bellen käme aus meinem Traum, und der Hund wäre ein Berliner Hund in einem Berliner Park.
Dann blinzelte ich ins Sonnenlicht eines Sommermorgens: Ich war kein Adler mehr, und die Hunde bellten noch immer. Sie bellten irgendwo in unserem Wald. Das Bellen kam näher. Und da waren auch Stimmen. Ich setzte mich auf.
Ich war allein. Meine lebende Federdecke war bereits ausgeflogen. Das Muster der Zweige hatte sich an einigen Stellen in meine Haut gedrückt. Ich griff nach meinen Kleidern, die in den Ästen der Esche hingen, und wollte sie überziehen – da brachen unter mir Schritte aus dem Gebüsch, und ich hörte die Hunde japsen. Direkt unter mir. Ich presste die Kleider an meine Brust und saß ganz still.
»Sieh mal einer an«, sagte eine der Stimmen. Es war eine Männerstimme, doch ich kannte den zugehörigen Mann nicht.
»Meinst du, das hat etwas zu bedeuten?«, fragte eine zweite Männerstimme, ebenso unbekannt. »Es liegt eine Menge Müll herum, hier in den Wäldern. Es kann einfach irgendeine Decke sein. Sie muss nicht dem Jungen gehören.«
Die Decke. Sie hatten meine Decke gefunden. Wenn sie nur den Rucksack mit den übrigen Sachen nicht fanden, der im Gebüsch versteckt war!
»Wir nehmen das Ding mit und fragen seinen Vater«, sagte einer der Männer. »Verdammter Regen. Die Hunde sind zu nichts gut nach so einem Regen.«
Irgendwo hörte ich jetzt noch mehr Hunde bellen, weiter fort.
»Ich fürchte, wir werden diesen Wald nicht nur einmal durchkämmen«, sagte der andere Mann. »Es ist immer so. Beim zweiten oder dritten Mal findet man, was man sucht. Nur, dass man das, was man findet, nicht finden will. Ich habe jedes Mal Angst davor. Es war April, als dieser Lion abgehauen ist. Jetzt haben wir Ende Juni, und er ist nirgendwo aufgetaucht. Wenn du mich fragst, ist er längst nicht mehr am Leben. Wir haben nie eins dieser Kinder gefunden, die eines Tages nicht mehr vom Spielen
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