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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Knall schien meine Eingeweide zu zerreißen, doch auch dieser Schuss traf nicht. Ich hetzte weiter. Neben mir brach ein Reh aus den Büschen, und ich sah in seinen Augen den gleichen Schrecken, den ich in mir fühlte. Einen Momentrannten wir nebeneinanderher, das Reh und ich. Dann folgte ein dritter Schuss, diesmal von der anderen Seite. Auch dort entdeckte ich einen Hochsitz. Ich rannte und rannte, und um mich schlugen die Kugeln ein wie in einem Krieg im Fernsehen. Der Wald schien plötzlich gespickt zu sein mit Hochsitzen, und ich verstand: Die Polizisten trugen Warnwesten, damit sie sich nicht aus Versehen gegenseitig abschossen.
    Ich raste im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch, mein ganzer Kopf erfüllt vom Lärm der Schüsse und dem Rascheln im Gebüsch. Die Polizisten waren überall.
    Es musste eine ganze Armee von ihnen sein. Und offenbar war es ihnen inzwischen egal, ob sie mich tot oder lebend fingen. Sie sahen mich nicht, sie schossen dorthin, wo sie mich zu sehen glaubten, und ich hatte Glück. Doch ewig würde ich kein Glück haben. Und ich rannte und rannte und rannte, doch ewig konnte ich nicht rennen. Ich war allein, und sie waren viele, sie hatten Hunde, sie hatten mehr Ausdauer als ich. Ich hatte keine Chance. Ich fragte mich, ob es möglich war, dass das Herz von jemandem einfach vor Angst stehen blieb.
    Schließlich sah ich eine Lichtung vor mir durch die Bäume schimmern, und sicher stand ein Hochsitz dort am Rand der Lichtung. Und sicher saß auf dem Hochsitz ein Mann mit einem Gewehr. Da fasste ich einen Entschluss.
    Ich würde auf die Lichtung hinauslaufen. Ich würde mich stellen. Ich würde die Hände hochnehmen und mich ergeben, ich würde sie um Gnade anflehen, sie bitten, mich nicht zu erschießen. Vielleicht hatten sie Mitleid.
    Ich hatte die Lichtung beinahe erreicht, als ich den Schrei meines Adlers hörte: »Rikikikriiii!«
    Da blieb ich stehen und hob den Kopf. Und dort saß er, in den Wipfeln des höchsten Baumes ringsumher. Es war eine Eiche, wie die zu Hause, in der man sitzen und übers Wasser gucken konnte.
    »Komm!«, rief mein Adler in seiner Adlersprache. »Schnell! Komm zu mir!«
    Aber was würde es mir nützen, auf die Eiche zu klettern? Die Hunde würden ihren Stamm umringen, die Männer würden ihre Gewehre anlegen und mich aus den Ästen holen wie ein Stück reifes Obst.
    »Rikriii!«, rief mein Adler noch einmal.
    Da streckte sich ein Arm aus den dichten Blättern der Eiche, eine Hand packte mich und zog mich hoch. Ich sträubte mich nicht länger, ich begann zu klettern. Und vor mir kletterte Olin in den Gipfel der Eiche, denn wer sonst hätte es auch sein können?
    Wir waren beinahe ganz oben, da fiel noch ein Schuss.
    »Sieh hinunter«, flüsterte Olin. »Sieh hinunter, Lion.«
    Am Fuß der Eiche lag ein Reh. Ein stilles, regloses Reh. Ein getroffenes Reh.
    »Begreifst du?«, wisperte Olin. Ich schüttelte den Kopf.
    Da traten zwei Männer aus dem Schatten und beugten sich über das Reh. Keiner von ihnen sah an der Eiche empor. Ich aber, ich sah ihre Polizeiuniformen jetzt genau, und ich sah, dass es keine waren. Die Männer waren grün angezogen, aber es war eine ganz andere Sorte von Grün.
    »Jäger«, sagte Olin. »Wir sind in eine Drückjagd geraten. Du hast geglaubt, es hätte mit dir zu tun, nicht wahr? Alle diese Männer.«
    Eine Drückjagd. Natürlich, sie hatte recht. Ich hatte das Wort schon gehört, von meinem Vater. Es bedeutete, dass die Jäger sich alle versammelten und das Wild in eine Richtung trieben, und man konnte eine Menge Wild schießen dabei, man konnte seine Kühltruhe für Monate füllen, hatte mein Vater gesagt. Wenn man ein Jäger mit einem Jagdschein war.
    Die Männer hoben das tote Reh auf und trugen es auf die Lichtung, die wir von unserer Eiche aus ganz gut einsehen konnten, und offenbar war die Jagd vorüber, denn jetzt kamen sie von allen Seiten auf die Lichtung und legten dort aus, was sie geschossen hatten. Es war alles großes Wild, Wild, das man mit Kugeln schießen konnte, und ich fragte mich im Geheimen, ob es wirklich eine Drückjagd gewesen war. Oder nur eine Drückjagd zum Schein. Eine schlaue Tarnung des schwarzen Königs.
    »Es hätte ja ein kleiner Unfall passieren können«, sagte ich. »Hoppla, jetzt haben wir den Jungen auch getroffen, der weggelaufen ist.«
    »Hoppla«, sagte Olin und dann lachte sie leise. »Glaubst du wirklich, sie organisieren eine ganze Drückjagd mit so vielen Leuten, extra, um dir Angst

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