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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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einzujagen? Vermutlich warst du im Radio und in der Zeitung, nun ja, als kleine Vermisstenmeldung. Aber jetzt wirst du größenwahnsinnig.«
    Ich erwiderte nichts. Ich sah zu, wie die Männer den Tierengrüne Zweige in die toten Mäuler steckten, obwohl ich nicht begriff, wozu. Und ich dachte, dass all diese Tiere mir hätten leidtun sollen, denn wenn die weiße Königin recht hatte, hätten sie alle mein Großvater sein können. Doch die Tiere taten mir überhaupt nicht leid. Ich war nur erleichtert, dass ich nicht dort lag, auf der Lichtung, mit einem grünen Zweig zwischen den Zähnen.
    Und ich dachte, dass das dort unten eine Menge Braten gab und wie hungrig ich schon wieder war. Und ich schämte mich ein wenig, dass ich das dachte. Aber Hunger, hatte die weiße Königin gesagt, ist eine Ausnahme.
    Dann sah ich den Mann vom Haus auf den Klippen. Er war einer der Jäger. Ich hatte ihn nicht gleich erkannt, doch jetzt nahm er seinen Hut ab, und als er beiseitetrat, sah ich auch, dass jemand neben ihm stand. Ein Junge. Der Junge mit dem MP3-Player.
    Er hatte den MP3-Player sogar dabei, die Kabel hingen oben aus seinem Hemd. Er sah nicht aus, als interessierten ihn die toten Tiere besonders – er hatte diesen verträumten Gesichtsausdruck, den er schon in der Kirche gehabt hatte, als wäre er ganz woanders.
    Einer der Männer öffnete jetzt eine Flasche. Eine Schnapsflasche. Die Erwachsenen tranken alle daraus, jeder nur einen winzigen Schluck. Aber für mich reichte es.
    Ich merkte, wie mir übel wurde, und sah weg.
    »Lion«, flüsterte Olin, »er kommt hierher.«
    »Wer?«, fragte ich und sah wieder zur Lichtung. Dort unterhielten die Männer sich immer noch, doch der Junge mit demMP3-Player fehlte. Olin deutete nach unten. Er stand am Fuß der Eiche. Er begann, die Eiche hinaufzuklettern.
    »Hat er uns gesehen?«, flüsterte ich.
    Olin schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich denke, ihm ist einfach langweilig und er will auf einen hohen Baum klettern.«
    Ja, das konnte ich verstehen – aber musste es gerade unsere Eiche sein?
    Wir stiegen höher, so hoch wir konnten, bis dorthin, wo die Äste beinahe zu dünn waren, um uns zu tragen. Bis dorthin, wo mein Adler saß. Er legte den Kopf schief und beäugte uns mit leiser Besorgnis. Denk daran, Lion, stand in seinen Augen, dass du kein Adler bist. Wenn die Äste brechen, fällst du, und du kannst nicht fliegen. Fliegen kannst du nur in deinen Träumen.
    Wir saßen still wie Statuen, Olin und ich, und ich hoffte mit aller Kraft, dass der Junge nicht zu uns hinaufsah. Er sah nicht zu uns hinauf. Er kletterte zu uns hinauf.
    Er war ein guter Kletterer, und erst, als er rittlings auf dem Ast direkt unter uns saß, sah er mich an. »Oh«, sagte er leise, »so sieht man sich wieder.«
    Er hob die Augenbrauen, um erstaunt auszusehen, und es wirkte ein wenig unecht. Vielleicht hatte er die ganze Zeit über gewusst, dass ich hier war. Vielleicht hatte er nur sichergehen wollen, dass ich es auch war, damit er es den Erwachsenen erzählen konnte.
    Ich hörte, wie Rikikikri von seinem Ast über mir aufflog. Bleib doch hier, flehte ich stumm, flieg nicht weg! Doch meinAdler flog nur eine Schleife über dem Baum. Dann versuchte er wieder, auf meiner Schulter zu landen, wie damals, vor dem Haus des schwarzen Königs. Diesmal schaffte er es trotz seiner Größe und seines Gewichts, die Balance zu halten. Der Ast, auf dem ich saß, bog sich durch. Doch es gab mir mehr Sicherheit als irgendetwas sonst auf der Welt, Rikikikris Krallen auf meiner Schulter zu spüren.
    »Verfolgst du mich?«, fragte ich.
    Der Junge schüttelte den Kopf. »Mein Vater ist zu dieser Jagd eingeladen worden, und ich bin mitgegangen. Es ist wirklich ein Zufall, es …«
    Da kletterte Olin blitzschnell einen Ast tiefer, und etwas blitzte in ihrer Hand. Das Jagdmesser. Sie hielt es dem Jungen an den Hals und beugte sich dicht zu ihm.
    »Wenn du irgendwem etwas sagst«, zischte sie, »schneide ich dir die Kehle durch. Verstanden? Ich finde dich. Ich finde dich überall und nirgendwo.«
    Ich sah Olin an und schüttelte den Kopf. Ich war mir sicher, es war beeindruckend genug, im Wipfel einer Eiche einem Jungen zu begegnen, der einen Adler mit über zwei Metern Spannweite auf der Schulter hatte. Ich wollte Olin fragen, weshalb sie mein Messer hatte, und ihr sagen, sie solle es wegnehmen, doch irgendwie kamen die Worte nicht über meine Lippen. Ich sah, wie der Junge schluckte. Er schluckte seine Angst hinunter.

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