Worte der weißen Königin
Er glaubte Olin und dem Messer.
»Dein Vater sucht dich«, sagte er. »Es ist auch im Radio.«
»Mein Vater«, sagte ich, »ist tot.«
Erst als die Worte bereits in der Luft hingen, wurde mir klar,was ich gesagt hatte. Es war wahr. Ich hatte die ganze Zeit zu Olin gesagt, es wäre nicht so und mein Vater würde wiederkommen und den schwarzen König besiegen. Irgendwann. Aber er war tot.
»Du hast Glück, dass sie von dem da nichts wissen«, sagte der Junge und zeigte auf mein linkes Auge. »Wäre ein gutes Kennzeichen, um dich wiederzufinden.«
»Von was?«, fragte ich. Ich hatte nicht in einen Spiegel gesehen, seit ich im Wald lebte.
Der Junge zögerte. »Der … Narbe«, sagte er. »Über dem Auge. Du hast einen Schnitt dort. Eigentlich zwei. Durch die Augenbraue durch.«
Ich fühlte nach. Er hatte recht. Es war mir herzlich egal, wie meine Augenbraue aussah. Was macht es aus, wie jemand aussieht, der im Wald wohnt? Und der weißen Königin würde es auch egal sein, bestimmt.
Aber es traf mich wie ein verspäteter Schlag, dass der schwarze König seine Handschrift für immer hinterlassen hatte. Es war wie ein Siegel, ein Besitzermerkmal, wie ein Brandzeichen auf einem Stück Vieh.
Ich hasste den Jungen dafür, dass er die Narbe gesehen hatte – so wie ich seinen Vater dafür hasste, dass er über mich gesprochen hatte. Es war erstaunlich leicht, zu hassen.
»Warum willst du nicht zurückgehen?«, fragte er.
»Das geht dich so was von überhaupt gar nichts an«, sagte ich.
Olin nahm das Messer vom Hals des Jungen und legte es stattdessen an seine linke Augenbraue.
»Würde vielleicht ganz hübsch aussehen, wenn du auch so eine Narbe hättest, was?«, wisperte sie.
Der Junge rührte sich nicht. Die Messerspitze befand sich gefährlich nahe an seinem Auge.
»Wo genau finde ich die weiße Königin?«, fragte ich.
Und ich wollte weiterfragen, ich wollte fragen, woher er sie kannte. Aber dann merkte ich, dass ich das nicht wissen wollte. Ich wollte nicht daran denken, dass sie ein Band für ihn besprochen hatte, nur für ihn. Ich wollte es vergessen.
»Die weiße Königin?«, flüsterte der Junge.
»Ihre Stimme war im MP3-Player«, sagte ich.
Der Junge nickte langsam. »Die … weiße Königin«, wiederholte er. »Sie ist krank. Schon länger. Sie liegt in einem Krankenhaus in Berlin. Ich weiß nicht, wie das Krankenhaus heißt. Wirklich nicht.«
»Du lügst«, sagte ich, aber meine Stimme zitterte.
»Lass mich gehen«, bat er.
»Geh«, sagte ich.
Ich weiß nicht, ob der Junge mit dem MP3-Player seinem Vater erzählt hat, was auf der Eiche geschehen ist, im Schutz der dichten grünen Blätter.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
In der Nacht nach der Sache mit der Eiche lag ich zusammengerollt unter dem Sternenhimmel wie immer, aber ich konnte nicht schlafen. Ich dachte an die weiße Königin. Meine weiße Königin.
Sie war krank.
Sie war schon länger krank. Vielleicht war sie gleich krank geworden, nachdem sie von ihrer Reise zurückgekehrt war, und deshalb hatte sie nicht zurückkommen können, um in der Kirche vorzulesen. Die weiße Königin, meine weiße Königin, war alt.
Vielleicht wurde sie nie wieder gesund.
Irgendwo lag sie in einem Krankenhausbett, weit weg vom Wald, und wartete auf mich. Aus irgendeinem Grund glaubte ich fest daran, dass sie auf mich wartete, obwohl sie doch nicht wissen konnte, dass ich kam.
Ich musste zu ihr, ehe es zu spät war.
Einige Tage später fanden wir einen winzigen Bahnhof mit einer offenen Toilette. Das Dorf, zu dem der Bahnhof gehörte, schlief im Schatten seiner großen Kastanienbäume an der Kopfsteinpflasterstraße, und auf dem ganzen Bahnhof war niemand, nicht einmal am Schalter. Das Wasser auf der Toilette funktionierte nicht, die Kloschüssel war zerbrochen und die Wände waren mit Hakenkreuzen und Anarchiesymbolen besprüht. Aber es gab einen Spiegel. Das Stück davon, in dem man zwischen den Sprayschlieren und dem Dreck noch etwas erkennen konnte, war gerade groß genug, um darin ein Viertel eines Gesichts zu betrachten.
Das reichte.
Der Junge mit dem MP3-Player hatte die Wahrheit gesagt. Über meinem linken Auge verliefen zwei breite Narben. Die Augenbraue war an diesen Stellen unterbrochen. Ich hatte auch eine Narbe an der Lippe, auf der gleichen Seite. Nun, ichhatte nicht vor, in meinem Leben jemals irgendwen zu küssen. Ich sah mein Spiegelbild so lange an, bis ich genug davon gesehen hatte, um es nicht wieder zu vergessen.
Dann
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