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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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nahm ich einen Stein und zerschlug den Spiegel. Olin klatschte ein paarmal in die Hände; das Geräusch hallte laut in der leeren Bahnhofshalle. Erst, als wir sie verließen, sah ich die leeren Flaschen in der Ecke, und mir wurde wieder übel.
    An diesem Abend begruben wir meinen Vater.
    Wir begruben ihn natürlich nicht wirklich, denn er war nicht da – der schwarze König hatte seinen Körper behalten.
    Ich suchte eine Linde im Wald und scharrte an ihrem Fuß mit bloßen Händen ein Loch, während Rikikikri am Himmel schwebte und seinen Ruf ausstieß und vielleicht alles verstand. Ich hätte gern etwas von meinem Vater in das Grab gelegt, doch alles, was ich von ihm besaß, brauchten wir zum Überleben – das Messer und die Angel und den Rucksack. So legte ich nur meine Erinnerung in das Grab, die Erinnerung an unsere wunderbare Zeit, als ich klein gewesen und an seiner Seite durch die Wälder gestreift war. Dann bedeckte ich ein leeres Grab mit Erde.
    Und ich sagte alle Worte der weißen Königin auf, obwohl die Stücke aus den einzelnen Büchern gar nicht zusammenpassten, aber irgendetwas musste ich doch sagen, was schön klang, denn das ist so bei Beerdigungen.
    Olin sagte gar nichts. Sie sagte nicht: Den schwarzen König gibt es nicht, oder: Die weiße Königin und ihre Worte hast du dir ausgedacht, oder irgendetwas anderes Olin-haftes. Sie verschwand auch nicht. Sie stand einfach neben mir und schwieg, und ich war ihr sehr dankbar dafür.
    Als wir das Grab verließen, versuchte ich, Tränen zu finden. Doch ich fand keine. Ich fand eine Adlerfeder in meiner Tasche.

11. Kapitel
    Der Sandhof
    I ch hätte nie gedacht, dass Berlin zu Fuß so weit weg war.
    Wir gingen nicht mehr an der Bahnlinie entlang, denn das erschien mir jetzt zu gefährlich. Wenn der Junge mit dem MP3-Player geredet hatte, wussten unsere Verfolger jetzt, wohin wir wollten und dass wir vermutlich die Gleise als Wegweiser benutzen würden.
    So wanderten wir auf einem Zickzackkurs durch den Wald nach Süden.
    Wie gern wäre ich einmal mit Rikikikri irgendwo geblieben, um auszuruhen! Doch die Angst hinderte mich. Bei den Seen hatte die Angst die Form eines Jungen mit einem MP3-Player und seinem Vater. In den Dörfern und auf den Straßen hatte die Angst die Form von silbern-grünen Wagen, und natürlich sahen wir sie, immer wieder. Womöglich waren sie nur so da, sie suchten mich nicht, sie hatten anderes zu tun. Aber sie würden sich erinnern, dass ich gesucht wurde, wenn sie mich sahen.
    Manchmal wünschte ich, der Boden würde sich einfach eines Tages auftun und uns verschlucken, mich und Rikikikri und Olin, und wir würden in einer ganz anderen Welt wiederherauskommen, einer Welt ohne die Farbe Silbergrün und ohne Radiomeldungen.
    Einer Welt, in der jeder ein Adler sein konnte, wenn er wollte, und in die Luft aufsteigen und zu einem Krankenhaus in Berlin fliegen, um jemanden zu finden.
    Aber es wäre ungerecht zu sagen, dass unsere Reise durch den Sommer nicht auch schön war. Sie war auf ihre Weise wunderbar. Wir badeten in den Flüssen und Seen und saßen still am Ufer und beobachteten die Schmetterlinge in den wild blühenden Wiesen. Wir sahen den Eichhörnchen zu, die die Stämme hinauf- und hinunterflitzten; wir pflückten den roten Mohn auf den Feldern und bliesen seine seidigen Blätter in die Luft wie Seifenblasen. Wir machten es wie die Rehe und ernteten Gemüse in den Gärten, die wir fanden, und die Sonne ließ alles, alles reifen: Gurken und Kartoffeln und Möhren, Tomaten und Johannisbeeren.
    Wir aßen uns unsere Bäuche rund und lagen im Gras und lachten. Ich sage wir , denn die Stunden, an die ich mich am liebsten erinnere, sind die Stunden mit Olin. Doch die Stunden, in denen ich allein war, waren zahlreicher. Manchmal wurde ich dann regelrecht verrückt von dem Gedanken, dass wir immer noch nicht angekommen waren. Der Zickzackkurs und die Angst hingen an unseren Beinen wie Fußfesseln. Ich dachte an die weiße Königin und bat sie um Verzeihung dafür, dass sie so lange warten musste.
    Und dann, als ich dachte, wir müssten schon ganz nahe an der Stadt sein, und doch nirgends Anzeichen für eine Stadt sah, fanden wir den Sandhof.
    Das Wetter war schlecht geworden, graue Regenschauer begleiteten uns seit Tagen. Es war schwierig, einen trockenen Platz zum Schlafen zu finden, und ich hatte begonnen, über den Herbst nachzudenken und den Winter. Was, wenn ich die weiße Königin nicht fand? Oder wenn ich sie fand und es zu

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