Worte der weißen Königin
spät war? Wenn sie zu krank war, um mir zu helfen?
Meine Gedanken wurden mit jedem Regen dunkler, und ich weiß nicht, ob ich einfach in ihnen ertrunken wäre, wenn wir den Sandhof nicht gefunden hätten.
Eigentlich war es Rikikikri, der ihn fand. Er landete neben dem See dahinter, um zu fischen.
Der Sandhof lag am Waldrand, einem der tausend Waldränder, und er war eine Ruine so wie die, die ich von zu Hause kannte. Aber viel, viel größer. Ich nannte ihn den Sandhof, weil er auf sandigem Grund stand und weil er früher wohl ein Hof gewesen war: Er bestand aus drei Gebäuden, drei riesigen, lang gestreckten Gebäuden aus großen Natursteinen und rotem Klinker. Früher waren die Dächer vielleicht mit Schindeln bedeckt gewesen, aber jetzt bestanden sie seit Langem aus Wellasbest wie das Dach vom Schuppen meines Vaters. Es gab eine lange Reihe kleiner Fenster in jedem Dach, durch die die Schwalben ein und aus flogen. Die Fenster in den unteren Stockwerken waren alle vernagelt, doch teilweise waren die Äste des Holunders hindurchgewachsen und hatten die Bretter wieder gelöst. Holunder, dachte ich, mochte Ruinen.
Der See, der hinter dem größten Gebäude lag, war nicht groß. Aber er war so voller Fische, dass man ihre Rückenflossen hier und da an der Oberfläche sehen konnte. Zwischenden Gebäuden wuchs nicht nur Holunder, dort wuchsen auch verwilderte Obstbäume: rote Äpfel und hellgrüne Birnen, blaue Pflaumen und goldgelbe Mirabellen. Sie waren noch nicht ganz reif, aber man konnte sie trotzdem essen.
Ein alter Weg schlängelte sich vom Sandhof durch ein Stück Heide davon, und in der Ferne sah ich Häuser, aber die Ferne war sehr fern und der Weg beinahe zugewachsen.
»Hier kommt niemand mehr her«, sagte ich zu Rikikikri. »Hier bleiben wir. Nur für ein paar Tage. Wenn ich ein paar Tage im Trockenen geschlafen habe, kann ich besser weiterwandern zur weißen Königin.«
Ich fand ein Fenster, dessen Brettervernagelung sich lösen ließ, und drinnen fand ich eine Menge Schutt und alte Pferdeboxen. Mehrere Leitern führten nach oben bis unter das Dach, wo die kleinen Fenster Lichtvierecke auf die Bretter warfen. Auf dem Dachboden lag auch jede Menge Müll verstreut, Stofffetzen, vergammelter Schaumstoff, Teppichstücke. Ich schob den Müll mit dem Fuß in einer Ecke zusammen, während mir Rikikikri von einem der Fenster aus zusah. Dann setzte ich mich mitten in den riesigen Raum, der von nun an der meine war.
Wenn die Kälte kam, würde ich die kleinen Fenster dagegen verstopfen, und dann konnten sie kommen: die Regenschauer und die Stürme, der Herbst und der Winter.
Aber etwas stimmte noch nicht.
Ich sah zu dem Müllberg hinüber. Das Ende eines Stricks lugte heraus. Sicher, sie hatten Stricke gebraucht, um die Pferde anzubinden. Ich sah wieder weg.
»Du musst sie schon anfassen«, sagte Olin, »wenn du sie loswerden willst.«
Sie saß auf einem Balken hoch oben unter dem Wellasbest und baumelte mit den Beinen.
»Du könntest mir helfen«, sagte ich. »Fass du sie an.«
Olin schüttelte den Kopf und baumelte weiter mit den Beinen.
»Du weißt doch«, sagte sie, »es gibt Dinge, die musst du selber tun.«
Da holte ich tief Luft, wie vor einer weiten Tauchstrecke, und dann suchte ich alle Stricke aus dem Müll heraus. Sie fühlten sich rau und pelzig an, wie gefährliche, giftige Raupen, die sich in meinen Händen wanden und ein Eigenleben entwickelten.
Ich trug sie hinunter zum Fischteich und warf sie ins Wasser, und sie schienen sich ein wenig zu wehren. Sie versuchten zu schwimmen. Doch schließlich sogen sie sich voll Wasser und gingen unter, und es war nichts mehr von ihnen zu sehen.
Da wurde ich so froh, dass es beinahe wehtat. Ich rannte zu den verwilderten Obstbäumen und pflückte so viele beinahe-reife Pflaumen und Mirabellen, wie ich essen konnte, und dann vollführte ich einen kleinen Freudentanz zwischen den grünen Blättern der Bäume. Ich hatte ein Zuhause, ich hatte genügend Vorräte, und Rikikikri hatte einen Teich, randvoll mit Fischen.
»Jetzt bist du wohl völlig übergeschnappt«, sagte Olin. Ich sah ihre Füße aus einem Apfelbaum hängen.
»Ja, jetzt bin ich wohl völlig übergeschnappt«, sagte ich. »Ist das nicht wunderbar?«
In dieser Nacht träumte ich von der weißen Königin. Sie saß in einem weißen Nachthemd auf der Kante eines weißen Bettes, und sie lächelte. »Lion«, sagte sie. »Mein Lion.« Ja, das sagte sie im Traum: »Mein Lion«, wirklich und
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