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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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wahrhaftig. »Mach dir nicht so viele Sorgen«, fuhr sie fort. »Ich warte schon auf dich, ich laufe dir nicht weg. Bleib nur ein wenig auf deinem Sandhof, wo es trocken und schön ist, bleib, solange es dir gut geht dort. Du hast wahrhaftig eine Zeit verdient, in der es dir gut geht. Wenn du zu mir kommst, später, kannst du mir davon erzählen.«
    Da wachte ich mit leichtem Herzen auf, und ich schickte der weißen Königin eine Postkarte aus Luft, auf der stand, dass ich bald käme, nur nicht sofort.
    Unsere Tage auf dem Sandhof waren wunderbar.
    Ich malte mir jeden Tag eine andere Einrichtung für meinen Dachboden aus: An einem Tag standen dort Bücherregale bis unter den Asbest, an einem anderen bequeme Sessel und kleine Tische, von denen man Kuchen essen konnte. Rikikikri besuchte mich, er zwängte sich durch eines der kleinen Dachfenster und teilte meine geträumten Sessel mit mir. Und ich teilte seinen Wald und seinen Fischteich mit ihm.
    Ja, unsere Tage auf dem Sandhof waren wunderbar, aber sie waren gezählt.
    Vielleicht eine Woche später war ich in der Abenddämmerung im Wald unterwegs, als ich etwas Großes im Unterholz rascheln hörte. Es war in der Nähe der alten Sandgrube, wo jemand ein großes Loch in die Landschaft gegraben hatte, um Sand herauszuholen und zu verkaufen. Ich blieb stehen undlauschte. Es raschelte nicht nur, es schnaubte und grunzte leise, und ich stand noch ein wenig stiller: ein Wildschwein.
    Ich konnte darauf verzichten, von einem Wildschwein angegriffen zu werden. Das Rascheln und Schnauben kam näher.
    Und dann hörte ich eine Stimme. Ich verstand nicht, was sie sagte, doch es war eindeutig eine menschliche Stimme, und sie gehörte nicht Olin. Da dachte ich plötzlich einen schrecklichen Gedanken. Ich dachte: Es ist gar kein Schwein. Es sind die Polizisten. Sie haben sich einen neuen Trick ausgedacht und tun jetzt so, als wären sie Wildschweine.
    Die Stimme war jetzt verstummt; ich drehte mich um die eigene Achse, um noch ein Wort zu verstehen, um herauszufinden, woher sie gekommen war. War es die gleiche Richtung gewesen, aus der auch das Rascheln kam? Oder machten meine Verfolger es wie bei der Jagd – hatten sie sich im Wald verteilt, um mich zu verwirren?
    Ich ging langsam rückwärts, von dem Rascheln weg. Äste brachen jetzt dort unter Schuhwerk. Das Schnauben hatte aufgehört. Mehr Äste brachen, ein paar Meter neben dem ersten Geräusch. Ja, es waren mehrere. Ich ging weiter rückwärts. Ich versuchte, meine Verfolger zu entdecken, doch es ist schwierig, grüne Uniformen zwischen grünen Blättern zu erkennen. Grüne Uniformen haben durchaus ihren Sinn.
    Ich merkte, wie ich rückwärts auf eine Lichtung stolperte, und im gleichen Moment hörte ich die Stimme wieder. Sie war hinter mir, und sie war hoch und dünn.
    Ich drehte mich um.
    Und schüttelte den Kopf. Was ich sah, war wie ein Bild auseinem Buch – einem Buch voller schöner Worte. Einem Buch der weißen Königin.
    Mitten auf der Lichtung stand ein kleines Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Es hatte blonde Locken, die ihm bis auf die Schultern fielen, und trug ein kornblumenblaues Kleid. Und es sah mich mit kornblumenblauen Augen an. In den Armen hielt es einen Teddybären, nein, es hielt ihn nicht, es presste ihn so fest an sich, wie es konnte.
    Neben der Lichtung raschelte es abermals, und nun war das Schnauben wieder da.
    Ich ging auf das kleine Mädchen zu, und ich war mir sicher, es würde verschwinden, wenn ich ihm nahe kam. Doch es verschwand nicht, es stand einfach da und starrte mich an. Auf seinen Wangen waren Spuren von Tränen, doch jetzt hatte es aufgehört zu weinen – wahrscheinlich aus Verblüffung darüber, dass ich aufgetaucht war.
    »Wer bist du?«, flüsterte ich.
    Und da sagte die Kleine den einzigen Satz, den man darauf sagen konnte. Sie sagte: »Ich bin es, Malin.«
    Nein. Ich hatte mich verhört. Sie hatte gesagt: »Ich bin Malin.« Sie hieß tatsächlich so.
    »Etwas kommt!«, flüsterte sie, ließ ihren Teddy mit einer Hand los und zeigte auf den Wald. »Da!«
    Ich nickte. Etwas kam, keine Frage. Nur was? War ich von der Wirklichkeit in ein Märchen gerutscht? Kamen dort keine Polizisten, sondern ein Drache, der Feuer spuckte?
    »Kriii!«, rief es über mir. »Rikikikrii!«
    Dort über der Lichtung schwebte mein Adler, und wenn ich in ein Märchen gerutscht war, dann war ich wenigstens nicht allein dort gelandet. Ich dachte daran, wie Rikikikri während der Jagd nach

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