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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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mir gerufen hatte, und auf einmal wusste ich, was ich tun musste. Ich packte Malins freie Hand und zog sie mit mir zum nächsten Baum, dessen Äste weit genug unten begannen. Dann hob ich sie auf den untersten Ast. Sie war leicht wie eine Adlerfeder. Ich kletterte ihr nach, half ihr weiter hinauf, weiter und weiter – und schließlich erreichten wir eine breite Astgabel, in der wir sitzen blieben.
    »Guck!«, rief Malin, und ich legte den Finger an die Lippen. Doch dann guckte ich. Unter uns war eine Bache mit vier Jungen aus dem Unterholz getreten.
    »Eine Wildschweinemama«, sagte Malin. »Aber sie hat fürchterlich große Zähne.«
    Das hatte sie. Wenn ich die Hauer der Bache von hier oben aus betrachtete, war ich sehr froh, auf einem Baum zu sitzen.
    »Sie kann vermutlich ziemlich böse werden«, sagte ich. »Wenn sie denkt, man will ihren Kindern etwas tun.«
    »Ich wollte ihnen nichts tun«, sagte Malin. »Ich tue keinem etwas. Man sollte sich nämlich zu jedem gut benehmen, auch zu Fliegen und allen Tieren. Es ist durchaus möglich, dass so ein Tier mal eine Urgroßmutter von einem selber war und als Fliege wieder auf die Welt gekommen ist.«
    Ich hielt mich am Stamm des Baumes fest. Mir war ein wenig schwindelig.
    »Kennst du die weiße Königin?«, fragte ich.
    »Nee«, sagte Malin.
    Das »Nee« war ein sehr wirkliches »Nee«, und auf einmal sah ich, dass Malin unter ihrem kornblumenblauen Kleid Jeans anhatte und rote Turnschuhe mit Klettverschlüssen an den Füßen. Und das Märchen zerplatzte. Nur das Rätsel blieb – das Rätsel um ihren Namen und ihre Worte. Die Worte, die sie als Nächstes sagte, waren nicht rätselhaft.
    »Du hast mich gerettet«, sagte sie und sah mich bewundernd an, und ich merkte, wie ich rot wurde.
    »Ach, Unsinn«, sagte ich.
    Malin griff in die Tasche ihres Kleides und zog etwas heraus, das in Silberfolie gewickelt und ein wenig zerknautscht war. »Klar hast du mich gerettet. Vor dem Zahnschwein. Du kriegst meine Schokolade.«
    »Danke«, sagte ich und grinste. »Bist du dir sicher?«
    Sie nickte, und da steckte ich die Schokolade in meine eigene Tasche. Ich würde sie mit Olin teilen. Es schien Lichtjahre her, seit ich Schokolade gegessen hatte.
    Malin seufzte. »Ich bin verloren gegangen«, erklärte sie.
    Unter uns verschwand die Bache mit ihren Jungen wieder im Wald.
    »Wir haben so jemanden besucht, und dann sind wir in den Wald gegangen, einen Ausflug machen, und ich wollte aufs Klo, in die Büsche. Allein, weil ich schon groß bin. Und als ich zurückgehen wollte, war der Weg nicht mehr da. Da bin ich in die andere Richtung, aber da war auch gar kein Weg. Überhaupt gar nirgendwo. Ich hab gerufen, und keiner hat geantwortet, und dann … dann war das Rascheln da … von dem Zahnschwein …«
    Sie brach ab und sah mich wieder mit ihren blauen Augen an.
    »Bringst du mich zurück?«, fragte sie.
    Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig. Irgendwo in diesem Wald waren Erwachsene unterwegs, Erwachsene, die ein kleines Mädchen suchten.
    »Ich weiß ja gar nicht, wo deine Eltern sind«, sagte ich.
    Sie dachte einen Augenblick nach, die Stirn in ernste Falten gelegt.
    »Muss ich dann im Wald wohnen?«, fragte sie. »So wie du?«
    »Wer sagt dir, dass ich im Wald wohne?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Na, ich dachte. Da, wo ich herkomme, da hat auch einer im Wald gewohnt. Den haben sie dann gesucht, das war sogar im Radio. Das war vor ungefähr tausend Jahren. Alle glauben, er ist inzwischen tot, weil sie ihn nicht gefunden haben. Aber das stimmt nicht. Ich weiß nämlich die Wahrheit.«
    »Ja?«, fragte ich verblüfft.
    Sie nickte. »Er hat sich verwandelt. Er ist jetzt ein Seeadler.«
    »Ach«, sagte ich. »Und woher weißt du das?«
    »Von meinem Bruder«, sagte sie. »Der hat ihn gesehen.«
    Da wurde mir noch komischer zumute als ohnehin schon und ich atmete ein paarmal tief durch.
    »Wohnst du in einem Haus auf den Klippen, mit einer Bank im Garten?«, fragte ich. »Malst du die Bilder in den Büchern deines Bruders aus?«
    »Ich darf das!«, rief Malin trotzig. »Die Bücher gehören uns. Mama und Papa haben sie gekauft.«
    »Ja«, sagte ich, und meine Stimme schmeckte bitter wie Angst und Wut zugleich. »Das haben sie. Das glaube ich sofort.«
    Ich dachte tausend Dinge. Ich dachte: Sie verfolgen mich. Noch immer. Sie wissen auf geheime Weise, wo ich bin.
    Ich half Malin schweigend von dem Baum hinunter, ich nahm sie schweigend an der Hand, und ich brachte sie

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