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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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irgendwo hinter Hohendorf in einem brechreizerweckend fröhlich bemalten Bushäuschen. Als ich am nächsten Tag weiterging, achtete ich nicht darauf, über welche Felder und durch welche Wälder mein Adler mich führte. Ich fühlte nur, dass es Felder und Wälder und Wege waren, die zu meiner Heimat gehörten. Die Rehe und Hirsche und Füchse, die auf den Feldern standen, waren meine Rehe und Hirsche und Füchse, und der blaue Himmel war mein Himmel. Und ich dachte an die weiße Königin, die ich nun vielleicht nie wiedersehen würde, und es zog in mir. Aber ich war zu Hause.
    Dann roch ich das Meer. Rikikikri landete vor mir auf dem Boden und legte den Kopf schief. »Rriii«, sagte er.
    Ich sah mich um. Vor uns verlief ein Zaun. Dahinter ragte ein zweistöckiges Haus in den Himmel, ein Haus, dessen Fenster aufs Wasser hinaussahen. Ein Haus mit einem großen Garten. Und am Ende des Gartens, jenseits einer dichten Hecke aus Rosen und Jasmin und Flieder und Holunder, fiel dasLand steil ab. Dort ragten weiße Kreideklippen über das Wasser hinaus. In der Ferne winkte die Insel Usedom.
    »Das Haus auf den Klippen«, flüsterte ich und erschrak und duckte mich, damit niemand mich sah. »Wir sind noch nicht da, mein tapferer Adler. Es ist noch ein ganzes Stück bis zu unserem Wald und bis zu deinem Horst in der uralten Esche.«
    Doch Rikikikri blieb sitzen, wo er saß. Er begann, einen seiner zerrupften Flügel zu putzen, als wartete er darauf, dass ich etwas tat.
    Da sah ich, dass in der Auffahrt vor dem Haus keine Autos standen und dass alle Rollos heruntergelassen waren. Sie waren nicht da. Der Junge mit dem MP3-Player und seine Schwester und ihre Eltern … sie waren nicht da. Das Gras hinter dem Zaun war hoch und die Büsche unbeschnitten.
    »Sie sind schon länger nicht da«, sagte ich laut, denn ich hatte keine Angst mehr, dass mich jemand hörte. »Es ist ein Ferienhaus. Ein Sommerhaus. Und jetzt, jetzt ist Herbst.«
    Ja, schienen Rikikikris gelbe Augen zu sagen, jetzt ist Herbst, und es ist kalt und stürmisch, und du bist krank, und du brauchst ein Bett – hast du das nicht gesagt? In diesem Haus gibt es Betten, jede Menge Betten, und es wird den ganzen Winter über niemand in ihnen schlafen.
    »Doch«, sagte ich. Und dann stieg ich über den niedrigen Zaun und ging einen kleinen sandigen Weg entlang, zwischen Heckenrosenbüschen hindurch, bis zur Tür. Die Tür war blau mit einem weißen Muster. Sie war verschlossen. Natürlich.
    Ich suchte unter der Fußmatte nach einem Schlüssel. Ich suchte unter den Töpfen neben der Tür, in denen kleineBäume wuchsen. Aber natürlich legt keiner einen Schlüssel unter einen Blumentopf, wenn er weiß, dass er den ganzen Winter über nicht da sein wird. Erst, als ich die Tür wieder ansah, merkte ich, dass es gar keinen Schlüssel gab. Da war ein kleiner schwarzer Kasten neben der Tür, ein Kasten mit einer Tastatur. Das Haus war elektronisch gesichert. Natürlich. Man hatte ja Geld hier.
    Ich hörte mich seufzen.
    Die Tastatur bestand nicht aus Zahlen, sondern aus Buchstaben. Auf dem kleinen Display über den Tasten blinkte eine Frage. WER SIND SIE?
    Ich wusste nicht, wie viele Versuche ich hatte. Vielleicht drei, wie bei Geldautomaten. Oder nur einen. WER SIND SIE?
    Ich überlegte einen Moment, ich dachte an die verblassten Worte in meinem Kopf, und schließlich lächelte ich. Und ich tippte: ICH BIN ES, MALIN.
    Die Tür sprang auf.
    Das Haus war so schön innen. Es war so schön. Alles war, wo es sein sollte und wie es sein sollte. An den Wänden hingen sogar Fotografien von Seeadlern. Ich ließ alle Rollläden hoch und trat vor die Wand im Wohnzimmer, die nur aus riesigen Glasfenstern bestand. Draußen glänzte das Achterwasser blau in der Herbstsonne, und Streifen von Licht fielen golden auf den Dielenboden. Ich sah meinen Adler dort im Himmel schweben, und da zog ich rasch die bodenlangen weißen Vorhänge vor die Fensterwand, denn ein Adler versteht das Prinzip vonGlasscheiben nicht, und ich hatte Angst, er würde versuchen, hindurchzufliegen. So wie damals durch das Kellerfenster.
    Denn alles, hatte die weiße Königin gesagt, geschieht zweimal. Und sie hatte recht gehabt:
    Ich hatte zweimal zugesehen, wie der schwarze König auf einen Adler schoss, und beim zweiten Mal hatte ich ihn gerettet. Ich war zweimal in einen Keller gesperrt worden, und beim zweiten Mal hatte ich mich gewehrt. Ich war zweimal zum Haus auf den Klippen gekommen. Und beim zweiten Mal hatte

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