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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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und aus irgendeiner Sorte Plastik. Ein Boden aus Plastik erschien mir wie die seltsamste Sache der Welt. Ich streckte einen Arm aus und streichelte meinen Adler, der neben mir hockte. Er wunderte sich sicher genauso.
    »Mach dir keine Sorgen«, flüsterte ich. »Es ist keine Falle. Ich habe die Tür nur verriegelt, damit niemand merkt, dass wir schwarzfahren.«
    Was, dachte ich, wenn es Rikikikri ebenso ging wie mir im Keller der Tierärztin? Wenn er dachte, man hätte ihn gefangen und eingesperrt? Aber mein Adler legte seinen Kopf an meine Schulter und döste ein. Er vertraute mir. Ich hätte fast geheult.
    Er vertraute mir, und ich hatte ihn den ganzen Sommer lang nur in Schwierigkeiten gebracht! Und ich konnte ihm nicht einmal versprechen, dass jetzt alles gut wurde.
    Wir würden mit dem Zug bis Hohendorf fahren, von dort aus war es zu Fuß vielleicht noch ein Tag bis zu Rikikikris altemRevier. Aber war es noch sein Revier? Hatte Aarak auf ihn gewartet, all die Monate lang? Und ich? Was würde ich tun, wenn wir dort waren? Jetzt, wo ich kein Ziel mehr hatte?
    »Husten«, sagte Olin. »Du wirst husten. Eine ganze Weile. Sonst nichts.«
    Ich sah auf. Doch Olin war nicht da. Nur Rikikikri und ich saßen auf dem Plastikboden der Toilette. Ich zog mich am Waschbecken hoch, um in den Spiegel zu sehen. Dort war Olin auch nicht. Ich sah nur mich selbst, und ich erschrak. Zum ersten Mal seit April sah ich mich ganz, nicht nur einen Ausschnitt – so wie in dem Bahnhofsspiegel.
    Ich sah aus wie Olin und nicht wie Olin. Meine Nase war spitz geworden, und man sah meine Wangenknochen. Meine Haare wirkten, als hätte ein wildes Tier sie abgegrast, sie standen in Büscheln von meinem Kopf ab, und womöglich war es keine gute Idee gewesen, sie mit einer Nagelschere zu kürzen. Meine Haut war so sonnenverbrannt und so dreckig, dass man die Sommersprossen darin nicht mehr sehen konnte. Nur die Narben über meinem Auge und meiner Lippe überraschten mich nicht, denn mit denen hatte ich mich abgefunden.
    Wenn die Polizei mich findet, dachte ich, wird sie mich gar nicht erkennen. Und beinahe hätte ich gelacht über diesen Gedanken. Doch statt zu lachen hustete ich. Mir war immer noch schwindelig und zur Abwechslung eiskalt statt glühend heiß. Schließlich rutschte ich mit dem Rücken an der Wand hinunter und schlief auf dem Boden ein.
    Irgendwann, viel später, rüttelte jemand an der Tür.
    »Da ist doch eener drin, wa«, sagte eine Männerstimme.»Uffmachen! He! Mach uff da! Is ja nich so, dass et dein Klo wär oder wie. Hier wolln noch andre Leute ruff!«
    Ich kam auf die Beine und starrte die Tür an. Und dann hörte ich die Durchsage des Schaffners: Der nächste Bahnhof war Hohendorf. Ich zog das Kippfenster auf, und ein bekannter, ferner Geruch nach Wasser und Algen und Fisch strömte zu uns herein. Das Fenster war winzig. Weder mein Adler noch ich passten durch dieses Fenster.
    Der Mann draußen rüttelte wieder an der Tür und fluchte. Seine Stimme klang verwaschen, und er sagte alles mehrmals. Ich roch den Schnaps in seinem Atem durch die Ritze der Tür. Alles in mir wurde zu Stein. Dieser Mann war nicht der schwarze König, es war einfach irgendein Mann. Aber es war wie mit dem Keller der Tierärztin, der nicht der Keller im Haus meines Vaters gewesen war. Manche Dinge, die ich roch oder sah oder fühlte, brachten die Erinnerung mit solcher Gewalt hervor, dass ich zurück in die Vergangenheit rutschte.
    Ich fühlte, wie ich den Halt in der Gegenwart verlor – da hielt der Zug. Und ich riss die Tür auf und stürzte hinaus, vorbei an dem Mann mit dem Schnaps im Atem.
    »Hee, immer langsam, immer langsam«, nuschelte er und versuchte, mich festzuhalten. Ich wusste, wenn es ihm gelang – wenn er mich wirklich festhielt, würde etwas Fürchterliches geschehen. Dann würde ich etwas tun, was ich nicht tun wollte. Doch da stob Rikikikri aus der Toilette, und der Mann erschreckte sich so sehr, dass er das Gleichgewicht verlor. Niemand, dachte ich, würde ihm später glauben, dass einAdler mit zwei Meter dreißig weiten Schwingen im Zug über ihn hinweggefegt war.
    Ich riss die Tür nach draußen auf, sprang über die Stufen hinweg auf den Bahnsteig – und spürte den Lufthauch von Adlerschwingen über mir. Rikikikri flog, taumelnd und langsam, aber er flog. Ich folgte ihm, vom Bahnhof weg, irgendeinen Feldweg entlang.
    Nein, dachte ich dann, es war nicht irgendein Feldweg: Es war der Feldweg nach Hause.
    Ich schlief

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