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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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donnerte es, der Sturm schickte seine stärkste Bö, und der Ast, auf dem ich saß, brach mit einem lauten Krachen. So fiel ich, in einem Regen aus Herbstblättern, eine blutige Feder in der Hand.
    Als ich aufkam, spürte ich den Schmerz der Prellungen nicht, die ich mir sicherlich geholt hatte. Ich dachte nur an meinen Adler. Ich rollte mich zur Seite, um ihn am Himmel zu finden, doch etwas anderes schob sich in mein Blickfeld. Die Esche. Die Esche stand schräg. Die Esche stürzte. Dieganze große alte Esche. Der Sturm hatte sie entwurzelt, und sie kippte langsam auf mich zu.
    »Jetzt mach die Augen wieder auf, du Idiot!«, sagte Olins Stimme über mir. »Es ist in Ordnung. Es ist nichts passiert. Lion? Lion!«
    Sie schüttelte mich, und ich blinzelte.
    Irgendwo blitzte es. Wenigstens konnte in eine bereits gefällte Esche kein Blitz einschlagen. Die Esche lag einen halben Meter neben mir. Olin musste mich im letzten Moment zur Seite gerissen haben.
    »Wo ist Rikikikri?«, flüsterte ich.
    »Komm«, sagte Olin. »Steh auf. Du musst fort von hier. Fort aus dem Wald. Es werden noch mehr Äste brechen.«
    Sie half mir hoch und fasste mich an der Hand, wie sie es schon so oft getan hatte. Dann rannten wir gemeinsam durch den Wald, zwischen entwurzelten Bäumen und ausgerissenen Zweigen.
    Ich hätte nicht gedacht, dass ich rennen konnte, aber ich konnte. Ich sah Olin vor mir, ihre unregelmäßig abgeschnittenen Haare und ihren wehenden, zu großen, uralten Pullover, und ich ließ mich von ihr mitziehen. Die Blätter, die um uns tanzten, waren wie bunte Lichtblitze, wie ein Feuerwerk. Mein Kopf dröhnte mit jedem Donnerschlag. Das war das Fieber.
    Ja, ich war krank, ich brauchte ein Bett und Ruhe, doch alles, was ich bekam, war Chaos.
    Endlich erreichten wir den Waldrand, und vor uns lag einBahnhof, einer jener winzigen, verlassenen Bahnhöfe wie der, in dessen Toilette ich mein Spiegelbild zerschlagen hatte. Ich erinnerte mich an die Schienen, die ich von der Esche aus gesehen hatte.
    Auch dieser Bahnhof war leer.
    Wir ließen uns auf eine Bank fallen, und Olin sagte »dort« und zeigte in den Himmel.
    Dort, ja, dort kam mein Adler.
    Er kam mehr aus dem Himmel gefallen, als dass er flog. Er hatte seine Eleganz verloren, die Enden seiner Flügel waren zerzaust und zerrissen wie die Wolken. Er landete vor mir auf dem Boden und schüttelte den Kopf und schüttelte und schüttelte ihn, als müsste er etwas loswerden: seine Verletzungen. Das Wissen, dass er den Kampf verloren hatte. Die Tatsache, dass ich krank war. Schließlich flatterte er schwach mit seinen weiten Schwingen und sah mich an, und er sagte: »Aarak.«
    »Ja«, flüsterte ich heiser. »Ja, du hast recht. Es ist Zeit, dass du dorthin zurückkehrst, wo du hingehörst. Zu Aarak. Du bist lange genug mit mir durch die Wälder gezogen. Und wir haben es nicht geschafft, unser Ziel zu erreichen. Es … es tut mir leid. Wir gehen nach Hause.«
    Und zum ersten Mal dachte ich, dass es vielleicht von Anfang an Unsinn gewesen war, die weiße Königin zu suchen. Selbst wenn wir es jetzt noch nach Berlin schaffen würden … es gab sicher hundert Krankenhäuser dort. Und tausend mal tausend Krankenhauszimmer mit tausend mal tausend alten Damen darin. Olin hatte recht, wir konnten sie niemals finden.
    »Wir gehen nach Hause«, wiederholte ich. »Wenn der Winter kommt, kann ich genauso gut dort erfrieren, wo wir einmal glücklich waren.«
    Olin schnaubte ungehalten.
    »Er kann nicht so weit fliegen«, sagte sie sachlich. »Du kannst nicht so weit gehen.«
    Da knackte es in den Lautsprechern des Bahnhofs, und eine Stimme kündigte die UBB an, was die Usedomer Bäderbahn ist, die natürlich auf die Insel fuhr. Zur Küste. Einen Moment lang wollten meine Beine auf das andere Gleis gehen, trotz allem. Das, wo die Züge nach Berlin fuhren.
    Aber dann kam der Zug, ein Zug nach Norden, und wir stiegen ein.
    Ganz am Ende, wo kein Schaffner stand. Und wenn der Schaffner weiter vorn sah, wie zwei unglaublich zerzauste Kinder mit einem Seeadler in seinen Zug kletterten, so dachte er wohl, er hätte sich das eingebildet, und wenn die Tür der Behindertentoilette eine Stunde lang durchgehend verriegelt war, so dachte er wohl, es läge daran, dass jemand dahinter rauchte.

14. Kapitel
    Das Haus auf den Klippen
    E ine Zeit lang saß ich einfach auf dem Boden des Behindertenklos, die Beine angezogen, den Kopf daraufgelegt, und versuchte, nichts zu denken. Oder alles.
    Der Boden war grau

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