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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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von einer gewissen Verlorenheit, von Verwirrung, von verkehrter Welt. Die Worte an der Wand rühren an mein Herz, aber ich bin nicht gläubig und werde auch durch sie nicht gläubig. Die Frau, die mich führt, hält sich offenbar für eine wachsame Hausmeisterin dieser Kirche und der Worte an der Wand. Sie merkt sogar kritisch an, dass ein wenig von der Farbe – in dem ausgeschmückten »L« von Licht – verblasst oder abgeblättert ist und erneuert werden muss. Aber sie ist gläubig. Es scheint, als müsse man immer für das sorgen, was an der Oberfläche ist, und was darunter ist, so tief und verstörend es auch sein mag, das wird schon für sich selbst sorgen.
    In getrennten Scheiben der bunten Kirchenfenster finden sich folgende Symbole:
    Die Taube (über dem Altar).
    Die Buchstaben Alpha und Omega (in der hinteren Wand).
    Der Heilige Gral.
    Die Weizengarbe.
    Das Kreuz in der Krone.
    Das Schiff vor Anker.
    Das Lamm Gottes, das Kreuz tragend.
    Der mythische Pelikan mit goldenen Federn, der seine Jungen mit dem Blut aus der eigenen zerrissenen Brust nährt, wie Christus die Kirche. (Der hier dargestellte Pelikan ähnelt einem richtigen Pelikan nur darin, dass er ein Vogel ist.)
    Nur ein paar Tage vor meiner Biopsie ruft mich das städtische Krankenhaus an, um mir mitzuteilen, dass der Eingriff abgesagt ist.
    Ich soll den Termin aber trotzdem wahrnehmen, um ein Gespräch mit der Radiologin zu führen, aber ich brauche nicht nüchtern zu bleiben wie zur Vorbereitung auf den Eingriff.
    Abgesagt.
    Warum? Erkenntnisse aus den anderen beiden Mammographien?
    Ich war einmal mit einem Mann befreundet, der ins Krankenhaus ging, um sich ein Knötchen aus dem Hals entfernen zu lassen. Er legte meine Hand darauf, auf dieses lächerliche Knötchen, und wir machten Witze darüber, wie wir dessen Bösartigkeit übertreiben könnten, damit er ein paar Wochen krankgeschrieben wurde und wir zusammen Urlaub machen konnten. Das Knötchen wurde untersucht, aber der Eingriff wurde abgesagt, denn man hatte viele, viele weitere Knötchen entdeckt. Das Urteil lautete, dass jedwede Operation sinnlos war. Ganz plötzlich war er ein vom Tode gezeichneter Mann. Keine Witze mehr. Als ich ihn besuchte, starrte er mich in nahezu besinnungsloser Wut an, die er nicht verbergen konnte. Er sei
völlig durchsetzt
, hätten sie ihm gesagt.
    Ich hatte das schon ein paar Mal in meiner Kindheit gehört, es wurde immer in einem Flüsterton gesagt, der halb bereitwillig der Katastrophe die Tür aufzuhalten schien. Halb bereitwillig, sogar mit der unanständigen Andeutung einer Einladung.
     
    Wir halten tatsächlich vor dem mittleren Haus in Scone, allerdings nicht nach unserem Besuch in der Kirche, sondern am Tag nach dem Anruf aus dem Krankenhaus. Wir sind um Ablenkung bemüht. Es hat sich bereits etwas verändert – uns fällt auf, wie vertraut sie uns langsam werden, die Landschaft vom Landkreis Sullivan und die Kirche und die Friedhöfe und die Dörfer Desboro und Scone und das Städtchen Chesley, wie die Entfernungen dazwischen sich verkürzt haben. Vielleicht haben wir alles herausgefunden, was es herauszufinden gibt. Vielleicht gibt es noch ein paar Erklärungen – die Idee von dem Gewölbe mag jemandem gekommen sein, der ein dreijähriges Kind nicht in die Erde legen wollte, aber was so faszinierend war, fügt sich jetzt zu einem Muster zusammen, das wir kennen.
    Niemand kommt an die Außentür. Das Haus und der Garten sind gepflegt. Ich erblicke bunte Beete mit einjährigen Blumen, einen Roseneibisch und einen kleinen schwarzen Jungen, der mit einem kanadischen Fähnchen in der Hand auf einem Baumstumpf sitzt. Es gibt in den Gärten nicht mehr so viele kleine schwarze Jungen wie früher. Erwachsen gewordene Kinder, Stadtbewohner, mögen Bedenken dagegen geäußert haben – obwohl ich nicht glaube, dass eine rassistische Herabsetzung je bewusst beabsichtigt war. Eher hatten wohl die Leute das Gefühl, dass ein kleiner schwarzer Junge etwas Drolliges und Niedliches in ihre Gärten einbrachte.
    Die Außentür führt auf eine schmale Veranda. Ich betrete sie und klingle an der Haustür. Es ist gerade genug Platz, um an einem Sessel mit einem kleinen handgeknüpften Teppich darauf und an zwei Korbtischen mit Topfpflanzen vorbeizugehen.
    Es kommt immer noch niemand. Aber ich höre lauten frommen Gesang im Haus. Ein Chor singt: »Voran, Soldaten Christi«. Durch das Fenster in der Tür sehe ich die Sänger auf einem Fernsehbildschirm im Haus.

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