Wozu wollen Sie das wissen?
den südlichen Teil des Landkreises – die violetten Bänder werden hier zu geschwollenen Schlangen, als hätte jede von ihnen einen Frosch verschluckt –, und zwischen beiden erstreckt sich eine morastige Ablaufrinne. Im Norden besteht der Boden aus Lehm. Alles, was hier angebaut wurde, gedieh wahrscheinlich nie besonders gut, allerdings fanden die Menschen sich damals eher damit ab, unrentables Land zu bearbeiten, waren dankbarer für alles, was es hergab, als das heute der Fall ist. Wenn solches Land inzwischen überhaupt noch genutzt wird, dann als Weideland. Die bewaldeten Gebiete – der Busch – kehren triumphal zurück. Auf solchem Boden geht die Tendenz nicht mehr dahin, die Landschaft zu zähmen, auch die Bevölkerung nimmt nicht mehr zu, sondern das Gegenteil ist der Fall. Der Busch wird nie wieder völlig die Herrschaft übernehmen, aber er greift nach der Macht. Das Rotwild, die Wölfe, die eine Zeitlang fast völlig verschwunden waren, haben ihr Revier zurückerobert. Vielleicht wird es bald auch Bären geben, die sich wieder an den Brombeeren und Himbeeren gütlich tun, auch an den verlassenen Obstgärten. Vielleicht sind sie schon da.
Während der Landbau zurückgeht, keimen an seiner Stelle unerwartete Unternehmungen auf. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass sie überdauern werden. SPORTABZEICHEN ALLER ART steht auf einem Schild, das bereits verwittert. DOPPELT Ü RIGE HUNDEH Ü TTEN ZU VERKAUFEN . Ein Laden, der Stühle mit neuem Rohrgeflecht versieht. REIFENHOF . Antiquitäten und Gesichtsmasken werden angeboten. Braune Eier, Ahornsirup, Dudelsackunterricht und Unisexhaarschnitte.
Wir treffen eines Sonntagmorgens bei der lutherisch-evangelischen Kirche St. Peter ein, gerade als die Glocke zum Gottesdienst ruft und die Turmuhr auf elf zeigt. (Später erfahren wir, dass diese Uhr nicht geht, sondern immer auf elf zeigt. Die Zeit für den Gottesdienst.)
St. Peter ist groß und ansehnlich, aus Kalksteinblöcken erbaut. Ein hoher Kirchturm und ein moderner Glasvorbau, der den Wind und den Schnee abhalten soll. Auch eine lange Remise aus Stein und Holz – eine Erinnerung an die Zeit, in der die Menschen auf Kutschen und Schlitten zur Kirche fuhren. Ein hübsches Haus aus Stein, das Pfarrhaus, umgeben von Sommerblumen.
Wir fahren auf dem Highway 6 weiter nach Williamsford, um etwas zu essen und der Pfarrerin genügend Zeit zur Erholung vom morgendlichen Gottesdienst zu lassen, bevor wir wissbegierig an ihre Tür klopfen. Etwa eine Meile die Straße hinunter machen wir eine entmutigende Entdeckung. Noch ein Friedhof, St. Peters eigener Friedhof mit eigenen frühen Daten und deutschen Namen, der den so nahe gelegenen unsrigen vollends zu einem Rätsel macht, zu einem Waisenkind.
Wir kehren trotzdem zurück, gegen zwei Uhr. Wir klopfen an die Vordertür des Pfarrhauses, und nach einer Weile erscheint ein kleines Mädchen und versucht, die Tür aufzuriegeln. Sie schafft es nicht und gibt uns Zeichen, zur Hintertür zu gehen. Auf unserem Weg dorthin kommt sie uns entgegengelaufen.
Die Pfarrerin ist nicht zu Hause, sagt sie. Sie ist nach Williamsford gefahren, um Nachmittagsgottesdienste abzuhalten. Nur unsere Informantin und ihre Schwester sind da und passen auf den Hund und die Katzen der Pfarrerin auf. Aber wenn wir etwas über Kirchen oder Friedhöfe oder Geschichte wissen wollen, sollen wir ihre Mutter fragen, die oben auf dem Hügel in dem großen neuen Blockhaus wohnt.
Sie sagt uns, wie sie heißt. Rachel.
Rachels Mutter scheint nicht im Geringsten von unserer Neugier überrascht oder von unserem Besuch gestört zu sein. Sie bittet uns in ihr Haus, wo ein lauter Hund sich für uns interessiert und ein beherrschter Ehemann sein spätes Mittagsmahl beendet. Das Erdgeschoss des Hauses besteht aus einem einzigen großen Raum mit weitem Blick auf Felder und Bäume.
Sie holt ein Buch hervor, das ich im Heimatkunderaum nicht fand. Ein altes, in weiches Leder gebundenes Geschichtswerk des Landkreises. Sie meint, es enthalte ein Kapitel über die Friedhöfe.
Und tatsächlich. Binnen kurzem lesen wir zusammen einen Abschnitt über den Mannerow-Friedhof, »berühmt für seine beiden Grabgewölbe«. Ein körniges Foto zeigt das größere Gewölbe. Es ist, so steht da, 1895 errichtet worden, um den Leichnam eines dreijährigen Jungen aufzunehmen, eines Sohnes der Familie Mannerow. Weitere Familienmitglieder wurden dort in den folgenden Jahren beigesetzt. Ein Mannerow-Ehepaar wurde in dem
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