Wünsche
kommt?
Kommt aber keiner. Vera steckte die Nivea-Dose zurück in die Kitteltasche und hielt in der Bewegung inne.
Er hat keine Kinder?
Nein.
Ich auch nicht, sagte der Reverend. Sie?
Ich?
Dann war Stille gewesen. Eine, die dem Toten hinter der Tür gehört, hatte sie zuerst gedacht, aber gemerkt, jemand wollte aus der Ferne etwas zu ihr sagen und schickte diese Stille als Auftakt vorweg. Das Gesicht von Jo tauchte auf, darüber diese Haare, dicht und steil, und plötzlich überrollte sie vor Pantons Tür die Gewissheit, dass Jo jetzt zwanzig ist, aber die Zeit weiter vergeht. Dass er zur See fahren und eines Tages auch sterben wird. Dass dies sicher zu einem Zeitpunkt sein wird, an dem seine Mutter tot und er irgendwelchen ungeduldigen, verbitterten Krankenschwestern ausgeliefert ist, die wie ihre Stützstrümpfe riechen.
Warum weinen Sie denn, stand der Tote Ihnen so nah?, fragte der Reverend und zog verunsichert seine Lederjacke wieder an. Die große Uhr über der Schwingtür zur nächsten Abteilung zeigte kurz nach zwei.
Nicht wirklich, flüsterte sie, er hat mich nur an jemanden erinnert.
An wen?
An meinen Sohn.
Reverend Jonathan fasste ihre Schultern und drückte zu. Sie spürte die Wärme seiner Hände durch den Stoff des Kittels. Für eine Zeit, die ihr unendlich vorkam, sah er sie reglos an. Beide atmeten sie nicht, bis er sagte: Der Mann war einundneunzig, Salomé. Ich glaube, Sie sind zu viel allein. Alleinsein schadet der Gesundheit.
Er ließ sie los und fuhr sich über den kahlen Schädel, als wolle er sich entschuldigen, bevor er mit langen Schritten über das teichgrüne Linoleum zur Schwingtür ging.
Weit, näher, vorbei, sagte Vera leise, während die Türen zwischen den Fluren noch eine Weile nachschwangen. Dann stand die erste still.
Jo
1.
Am frühen Abend stand er in Trainingshosen an Deck. Er war joggen gewesen, immer die gleiche Runde. Wie so oft hatte er ziemlich breitbeinig laufen müssen, um bei dem Seegang das Gleichgewicht nicht zu verlieren, hatte die Hand nach der Reling ausgestreckt, um sich abzustützen. Seit Februar war er auf der Hiroshima , und bis September würde er bleiben. Bei Einbruch der Nacht rissen längst keine Leuchttürme mehr den Horizont auf. Wo war die Küste geblieben? Die Wolken über ihm bildeten Haufen und ließen nur ab und zu eine letzte Sonne durch. Salzig und feucht roch es auf der Hiroshima , und in der Luft lag das helle Singen und Stöhnen von Material, das sich Seemeile um Seemeile verschleißt. Kielwasser verlor sich in den Wellen, die wie Schiefer glänzten. Die Farbe des Wassers erinnerte ihn an die Ringeltaube, die er vor Jahren bei einer Tombola des Heimatfestes für Mutter gewonnen und dann auf ihr Verlangen hin hatte fliegen lassen müssen. Auf dem Weg zu seinem alten Klapprad hatte er gesehen, wie der Losverkäufer die Taube mit einem Schmetterlingsnetz wieder einfing und noch einmal als Preis aussetzte.
Fing er an, im Kreis zu denken, weil er auf dem Meer fuhr?
Er ging in seine Kajüte. Es war der 1. Mai.
2.
Gleich nach Silvester hatte Jo Karatsch zur Polizei begleitet, wegen einer Vermisstenanzeige. Wegen Mutter. Karatschs Angst, er könnte zum zweiten Mal bereits Witwer sein und es nur noch nicht wissen, hatte ihm an jenem Mittwoch im Januar deutlich im Gesicht gestanden. Wie mit einem Gummiknüppel hatte er auf den grünen Strickpullover des diensthabenden und übernächtigten Beamten gezeigt: Sie müssen meine Frau suchen.
Dann hatte der Fingerknüppel sich auf Jo gerichtet: Sie ist die Mutter von diesem Kind. Der Finger hatte aus dem Fenster gezeigt: Fangen Sie sofort in Sachsen an!
Wieso in Sachsen?
Irgendwo müssen Sie schließlich anfangen, Herr Kommissar, hatte Karatsch gesagt, und in Sachsen sollen Lehrer ja besser bezahlt werden. Vielleicht ist sie nach Dresden oder Pirna gegangen. Mit der Gelassenheit eines Menschen, der schon längst woanders ist, hatte Jo Karatschs Aufregung über sich ergehen lassen. Anfang nächster Woche würde er in Kiel sein, zur Vorbereitung seines Studiums. Dann nach Bremerhaven fahren, dann zur See.
Die Suche nach einem Vermissten sei personenabhängig, hatte der übernächtigte Beamte gesagt. Werde zum Beispiel ein Kind vermisst, suche die Polizei sofort.
Statt zu antworten, warf Karatsch Fotos von einem der letzten Silvesterfeste auf den Schreibtisch des Beamten, der einmal flüchtig und beim zweiten Mal mit zusammengezogenen Brauen genauer hinschaute. Bevor Sie jetzt laut zu
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