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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kuckart
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Großvater geliebt, weil er Zigarren rauchte und lügen konnte und in seinem schwarzen Anzug wie ein Zirkusdirektor aussah, der gerade zur Kirche geht. Die letzten zwei Jahre nach seinem Vierzigsten hatte Großvater Conrad mit Henkelmann auf Parkbänken in der Sonne sitzend verbracht. Im November spätestens wurde es zu kalt. Er zog um in die beheizte Schalterhalle des Bahnhofs und stand dort von November bis März in seinem schwarzen Anzug herum. Man glaubt ja nicht, was einem alles einfällt, wenn man vor sich hin schaut, sagte er, wenn Jo ihn besuchen kam. Kurz vor seinem Tod wies das Sozialamt ihm eine Wohnung zu. 1½ Zimmer. Dort hatte er weiter seine Kreuzworträtsel gelöst und noch immer nichts gelesen, aber die zwei Taschenbücher vom Namensvetter Joseph Conrad besser behandelt als Gläser und Geschirr auf dem gleichen Regal. Herz der Finsternis , was für ein Titel, hatte er zu Jo gesagt.
    Warum der Großvater am Ende in ein Pissoir umgezogen war?
    Niemand weiß das, und nur wenige können mit den Toten reden. In dem Jahr, in dem Jo Conrad aufs Gymnasium kam, war Joseph Conrad gestorben. Die zwei Bücher hatte Jo geerbt. War beim Lesen der Wunsch entstanden, das Leben in der Nähe von Schiffen zu verbringen?
    7.
    Welcher Wochentag war, vergaß er auf See. Nur die Samstage und Sonntage unterschieden sich. Samstags gab es Sicherheitstraining. Die Mannschaft aus Burma bestieg die Rettungsboote und kletterte unter fiktivem Zeitdruck hin und zurück, um bei Katastrophenalarm in Übung zu sein. Die Bewegungen von Jamie, dem Anführer, und seinen Kumpels sahen bei dem Manöver aus wie die von Indianern. Raus aus dem Schatten, rein ins Dunkel. Jamie. Einmal hatte er in gebrochenem Englisch die Geschichte von seinem Schiffbruch erzählt. Er war als einer der Letzten von Bord gegangen und hatte erst nach Stunden des Schwimmens im Wasser einen Holzkäfig mit Hühnern darin gefunden. Jamie hatte sich festgekrallt, bis ein anderes Schiff ihn bei Anbruch der Nacht aufgriff. An Bord hatte man den Käfig geöffnet. Die Tiere waren tot, aber es waren gar keine Hühner, sondern Enten gewesen. Ein Wunder, hatte Jamie gesagt, aber es hatte etwas zu Abgehacktes, zu Hastiges gehabt, wie er es sagte. Der Eindruck, dass etwas Erstaunliches, Umwerfendes, Unerklärliches geschehen sein sollte, stellte sich nicht richtig ein.
    Das Wort Wunder hatte einsam auf seinen Lippen geklungen.
    Sonntags saß Jo an Deck, spielte Gitarre, sah anderen zu, wie sie sich die Zehennägel schnitten, Zigaretten drehten oder die Haare wachsen ließen. Er langweilte sich und fühlte sich geborgen. Für die Rückkehr an Land aber wünschte er sich ein Leben ohne solche großen Pausen. Wenn er an solchen Sonntagen die Augen zusammenkniff und auf das Meer schaute, zerfiel die Wirklichkeit in jene Partikel, die Träume so unberührbar machen. Manchmal setzte sich der Koch aus dem Iran neben ihn, drehte wie die meisten an Bord ein Dutzend Zigaretten auf Vorrat und schlug danach ein Buch auf. Ich habe beim Lesen dieser Geschichte hier sofort den Geruch von Zitronenschalen und frischer Milch in der Nase, sagte er einmal, obwohl die Seiten aus holzigem Papier sind. Jeki bud, jeki nabud, las er auf Persisch vor. Einer war mal, der andere war nicht, übersetzte er.
    Es war einmal, so heißt das wohl bei uns, sagte Jo, während er bereits fünf sehr schöne, hoch gewachsene Prinzessinnen mit großen weißen Zähnen und runden Mädchenaugen über die vom Salzwasser spröden Schiffsplanken streifen sah, die ihn zum Lachen bringen wollten, obwohl ihre Geschichten grausam waren.
    Sonntags drauf fragte ihn der iranische Koch plötzlich: Weißt du, warum ich zur See fahre?
    Nein.
    Weil ich an Land zu viele Menschen kenne, sagte er, die weder Kummer noch Not erlebt haben und trotzdem nie lachen. Selbst wenn sie höflich lächeln, ist das nur ein Ausrutscher, kein Zeichen von Wärme. Nachdem sie dann höchstens drei Sätze lang höflich gelächelt haben, sitzen sie wieder da, als seien sie von einem Eiswürfelspender und einer Tiefkühltruhe gezeugt, und beäugen misstrauisch mich, den Mann aus dem Land der Teppiche und Atomwaffen. Da muss man doch einfach zur See fahren, oder?
    Er schaute Jo direkt in die Augen.
    Und du, hast du Familie?
    8.
    Warum Mutter verschwunden war?
    Blätter, die noch grün waren, fielen ja auch von den Bäumen, und Äste, dick wie Kinderarme, lagen am Morgen nach einer stürmischen Nacht auf der Straße.
    Hatte Mutter stürmische Nächte?
    Warum

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