Wünsche
Blitz hat sekundenlang die Unfallstelle taghell erleuchtet. In diese Helligkeit hinein habe ich mein Bild gemacht. Aber immer nur eins. Das war mein Prinzip: Ein Unfall, ein Bild.
Schneider und er hatten danach in Gedanken versunken durch die dicke, durchsichtige Baufolie auf den Marktplatz mit dem Lottobüdchen in der Mitte gestarrt. Die nächtliche Welt da draußen war ihm so leer und ausgeräumt vorgekommen wie eine Wohnung, die noch keinen neuen Mieter gefunden hat.
Warum machen Sie das eigentlich alles hier, Chef?, hatte Schneider ihn wie ein Schlafwandler im Schatten der letzten Nacht gefragt.
Er werde Stück für Stück aus Haus Wünsche ein Retro-Warenhaus machen, hatte Friedrich zu Schneider gesagt, denn eigentlich fühle er sich mit dem Erbe nicht als Sohn seiner Mutter, sondern eher wie der Neffe von Tante Emma.
Welche Emma?, hatte Schneider gefragt.
Eine von denen, die früher diese gemütlichen Läden hatten, als ich noch Kind war.
Emmaläden gibt es längst nicht mehr, Chef.
Emmas gibt es immer wieder, Schneider, hatte Friedrich gesagt, schauen Sie mich an. Schneider hatte besorgt an ihm hochgeblickt, und Friedrich hatte lachen müssen. Mit dem Lachen war er mutiger geworden. Haus Wünsche wird wieder der Ort im Herzen der Stadt sein, wo Frauen in vierter Generation ihren ersten BH kaufen, so wie ihn auch die Urgroßmutter hier gekauft hat, hatte er zu Schneider gesagt. Die Kunden werden wieder richtig wahrgenommen werden, wie früher. Früher war auch nicht alles wie früher, hatte Schneider gemurmelt, aber Friedrich hatte einfach weitergeredet. Anzeigen für Werbung werde ich zeichnen lassen und so die Ästhetik der Fünfzigerjahre kopieren, hatte er gesagt, und an der Kasse werden die Einkäufe der Kunden in Seidenpapier eingepackt, wie Geschenke, die man sich selber schenkt, damit eine Erinnerung bleibt an den Moment des Kaufs. So, hatte er gesagt, kommt der Kunde in den Genuss des reinen Wartens, eines Wartens, in dem ihm keine Zeit verloren geht, selbst wenn ihm der Bus davonfährt.
Aha, hatte Schneider gesagt, und was ziehen Sie eigentlich morgen an, Chef?
Die Belegschaft von Haus Wünsche hat sich jetzt hinter den applaudierenden Schneider gestellt und ebenfalls geklatscht. Schneider hat eine alte Nikon aus seiner braunen Fototasche genommen und den Film eingelegt. Draußen schiebt sich ein Lastwagen vor das Bauloch. Zwei Transporteure springen aus dem Führerhaus und schlagen die grüne Plane zurück. Allein können die beiden spillerigen Hanseln das alte Monster gar nicht reintragen, murmelt Schneider, bevor er abdrückt und ein Foto schießt von der Rückkehr der alten Drehtür. Aber nur ein einziges. Die Tür hatte der Urgroßvater 1932 im Haupteingang von Haus Wünsche einbauen lassen. Vierzig Jahre später hatte Tochter Martha sie ausbauen und durch eine moderne Glastür ersetzen lassen, die sich automatisch und mit leisem Schmatzen öffnete und schloss. Neue Zeiten, sagt Friedrich jetzt, neue Zeiten brechen an, indem wir die Zeit zurückdrehen. Er zeigt auf das Loch zur Straße, in dem bis Mittag die alte Drehtür eingebaut sein wird, und ahmt mit der Linken deren Rundlauf gegen den Uhrzeigersinn nach. In fünfzig Gesichter schaut er dabei und lächelt. Das sind die Menschen, mit denen er ab jetzt arbeiten wird. Was sie wohl denken mögen? Friedrich vergrößert das Lächeln auf seinem Gesicht, um darin jede Unsicherheit verschwinden zu lassen. Soll er weiterreden? Fräulein Möller, ehemals Kunststopferin und Laufmaschenfängerin und längst zuständig für Kurzwaren, trippelt den Transporteuren entgegen, um das Türblatt aus dunkler Eiche zu berühren. Friedrich knüllt sein Blatt mit den Redenotizen zusammen, wirft es in die Luft hinter sich und tritt mit der Fußspitze aus wie ein gut gelauntes Pferd. Er wird frei sprechen, nein, er wird gar nicht sprechen, beschließt er im nächsten Moment und folgt Fräulein Möller. Mit jedem Schritt mehr hüllt ihn ein Wind von vorn wie ein kaltes Tuch ein. Im Gehen schaut er nach oben und sieht Trauben bunter Luftballons zu seiner Begrüßung unter dem milchigen Glasdach von Haus Wünsche hängen. Auf den Scheiben liegt das weiße Licht eines Wintertags. Sein Großvater hat mit diesem luftigen Dach Haus Wünsche zu jenem hellen Ort gemacht, an dem Gewinn und Glück einander zum Verwechseln ähnlich wurden. Das Konzept hatte er von den Wertheims kopiert, damals, als er Ende der Zwanziger hierherkam, um für die Wünsches einen Neuanfang
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