Wünsche
Eile, wie er zwischen den Gängen aufgewischt hat, geht er Richtung Ausgang und kommt mit einem Generalschlüssel zurück.
Was ist denn in dem Schrank?
Meine Wildlederjacke, meine Westernstiefel und so.
Umständlich schließt der Schwarze den Spind auf und schaut hinein.
Exakt, sagt er, aber einen Ausweis haben Sie nicht dabei? Er holt die dunkelblaue Sporttasche aus dem Schrank und tippt auf den verschlossenen Reißverschluss. Haben Sie?
Aber doch nicht, wenn ich schwimmen gehe, murmelt sie und ist dicht an ihn herangetreten. Sie hat die Zähne aufeinander und die Arme um den nassen Leib geschlagen. Er riecht nach Schweiß. Einmal als Kind hat sie Geschichten gelesen, in denen dieser Geruch bei Missionaren und Kolonialisten Schlimmes angerichtet hat. Die meisten Bücher, die sie gelesen hat, hatte sie von Meret ausgeliehen.
Ich glaub Ihnen auch so, Lady, sagt er, und ausnahmsweise nehmen wir heute keine Extragebühr für den verlorenen Schlüssel. Ist ja Silvester.
Und mein Geburtstag.
Glückwunsch. Wie alt werden Sie denn?
So viel Direktheit hat sie ihm nicht zugetraut.
Achtunddreißig.
Nochmals Glückwunsch, sieht man Ihnen nicht an.
Er hebt einen Daumen. Auf der hellen Haut des Handballens ist ein Tattoo von zwei Flügeln. Wieder einmal fällt Vera auf, dass Schwarze weiße Handflächen haben, so als hätte irgendwann jemand etwas ganz anderes mit ihnen vorgehabt.
Was ist das für ein Tattoo?
Flügel von einem Engel, sagt er, und schönen Tag noch.
Der Schwarze folgt seinem Wischer Richtung Dusche, und Vera verschwindet in der Umkleidekabine. Danke, sagt sie, als sie die Tür hinter sich schließt, und zieht den Reißverschluss der blauen Sporttasche auf. Der Ausweis steckt im Seitenfach. Salomé Schreiner, geboren in der gleichen Stadt wie Vera, aber zehn Jahre später. Zehn Jahre jünger also. Was hat Vera eigentlich die letzten zehn Jahre gemacht? Dem eigenen Leben zugeschaut, wie man Farbe zuschaut, wenn sie trocknet? Sie setzt sich auf die schmale Bank unter dem Kabinenspiegel und nimmt die fremde Wildlederjacke auf den Schoß. Mit den Fingern kämmt sie das Fell am Kragen. Als sie die Westernstiefel anzieht, passen sie. Jetzt muss sie nur noch aufstehen und gehen. Wie ein Dieb öffnet sie mit ihrem Schlüssel Spind Nr. 17, holt ihre Geldkarten aus dem Portemonnaie, wirft einen Blick auf das Foto vom Sohn: Jo schlafend auf dem Sofa daheim und mit der Fernbedienung des Fernsehers in der Hand. Ein Lächeln liegt auf seinen Lippen, als habe er gewusst, dass ihn jemand anschaut und fotografiert. Die Zukunft wirft ihr Licht auf sein Gesicht von innen und von außen. Er ist ein fertiger Mann und wird es ab jetzt ohne sie schaffen, ganz sicher, ganz sicher, wiederholt sie für sich.
11.
Schneider applaudiert als Erster, als Friedrich, der neue Chef von Haus Wünsche, die niedrige satinierte Glastür des Kontors zum Verkaufsraum hin öffnet. Schneider, der pensionierte Polizist und neue Kaufhausdetektiv der Wünsches, trägt seinen schwarzen Anzug, den er sonst sicher nur zu Beerdigungen aus dem Schrank holt. Friedrich stellt sich zu ihm. Er kennt Schneider, seitdem er Kind war. Er friert. Die Baufolie im Eingangsbereich zur Straße hin hält kaum die Wärme im Haus an diesem Silvestermorgen.
Gut geschlafen, Chef? Schneider beugt sich vor und fixiert Friedrich mit seinen grauen, glasklaren Augen. Was geträumt, Chef?
Schon, ich glaube schon.
Was Schönes?
Friedrich nickt: Ich glaube, irgendwas mit einem Haus ohne Tür.
Wofür ist man schließlich mal Polizist gewesen?, hatte Schneider gestern Abend gesagt und sich die ganze Nacht neben das Bauloch zur Straße gesetzt. Zweimal war Friedrich mit einer Thermoskanne Tee hinuntergegangen und hatte sich auf die Rücklehne eines zweiten Stuhls neben ihm gestützt, ohne sich zu setzen. Ich war mal Polizist, hatte Schneider wiederholt, als wenn Friedrich das noch immer nicht wüsste. Ich bin vierzig Jahre lang nicht nur Streife gefahren, sondern habe auch mit meiner Kamera die Unfälle dokumentiert. Autos, die auf dem Dach liegen, zum Beispiel, und ihre aufgeschlitzte Unterseite preisgeben, wie Eingeweide, die in Ölblut schwimmen. Ein gutes Foto, hatte Schneider gesagt, muss vor allem scharf sein. Man muss alles darauf sehen können, was man sehen möchte. Scharf, Chef, hatte er gesagt, sind meine Fotos immer gewesen, trotz schwieriger Umstände. Auch nachts. Ein Kollege hat dann, wie bei einem Filmset, eine Magnesiumpatrone abgeschossen, und deren
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