Wünsche
Stock da. Dann greift sie über den Küchentisch und versucht, Vera aus der Wolldecke zu wickeln.
Vera lacht: Keine Angst, nicht mit mir.
5.
Eigentlich könnten wir doch gleich wieder fahren, sagt Jo, als sie beim Bankomaten auf der White Chapel Road in der Schlange stehen. Karatsch schaut auf seine Uhr.
Wir bleiben noch bis morgen früh. Ich habe die Rückfahrt mit der Fähre für Sonntag zehn Uhr gebucht und bezahlt. Dabei bleibt es.
Endlich ist er an der Reihe. Mit viel Druck tippt er die Geheimzahl ein.
Wir könnten wenigstens anrufen, ob sie schon zu Hause ist, sagt Jo.
Zu Hause kommt sie nicht rein, sagt Karatsch. Sie hat keinen Schlüssel mehr. Wo sollen wir sie also anrufen? Wieder tippt er. So ein Scheiß mit Reis, sagt er, warum das plötzlich nicht mehr die richtige Geheimzahl ist, weiß ich auch nicht.
London, sagt Friedrich Wünsche. Er breitet mit den Händen in den Taschen die Arme aus und scheint plötzlich auf und davon fliegen zu wollen.
London, mein Gott, sogar das Atmen ist hier eine wunderbare Sache! Er holt tief Luft.
Smog, sagt Karatsch.
Eine junge verschleierte Frau läuft in offenen Sandalen vorbei. Mein Gott, dass man auf so kleinen Füßen überhaupt vorwärtskommt, denkt Jo. Gleich neben dem Bankomaten ist die Post. Ob Mutter dort mit ihrem unerschrockenen Fersengang an einen Schalter getreten ist, um den Brief mit dem Pass nach Deutschland wiegen zu lassen? Ob sie ihn hat, versichern lassen und deswegen ihre Anschrift erst im letzten Moment und unüberlegt eingefügt hat? Ob sie den Pass zurückgegeben hat, wie man eine Rolle aus Altersgründen zurückgibt? Oder ob sie sich gewünscht hat, mit dem Brief eine Spur zu legen, oder wenigstens eine Flaschenpost einzuwerfen: Bancroft Road 101, c/o Kennedy. Bitte finde mich doch einer.
Friedrich Wünsche zieht eine Geldkarte aus seiner Brieftasche.
Royal Bank of Scotland, hab ich zufällig noch, von früher.
Früher, wann war das?, fragt Jo.
Als hier noch mehr Smog war, sagt Karatsch. Seine Laune wird deutlich schlechter.
Friedrich Wünsche lacht. Das war, als ich noch so ein Getriebener im gehobenen Management war und selbst Joggen nicht mehr half.
Karatsch ist bereits beim Ampelübergang und will ihn bei Rot überqueren. Er schaut in die falsche Richtung dabei. Jo reißt ihn zurück.
Stimmt, Sohn, die fahren hier ja alle auf der falschen Seite. Bin ich froh, wenn ich wieder zu Hause bin, sagt er, und putzt sich verlegen die Nase.
Im Touristenbus Nummer 11, der sich im Schneckentempo durch den Stau auf der Fleet Street schiebt, schweigen sie alle drei aneinander vorbei, bis der Bus ganz stehen bleibt. Sie steigen um. Als sie sich mit einem anderen Bus Chelsea nähern, sind alle, die in London ernsthaft Eile haben, längst ausgestiegen. Allein sitzen sie auf dem Oberdeck, und Karatsch fängt an, Witze zu erzählen.
Wie viele Inder passen in einen Bus?
Alle, sagt Wünsche, den kannte ich schon.
Karatsch lacht trotzdem. Kurz darauf schläft er ein. Jo macht ein Foto, wie er auf dem Oberdeck eines Londoner Busses am Ende einer langen Reihe von türkisen Haltestangen den Kopf gegen die Scheibe gelehnt und den Mund etwas spitz geöffnet hat, als stolpere er durch eine zärtliche Kinderlandschaft mit einem freundlich Comicmond darüber, der seinem Traum weder nah noch fern, aber am Himmel steht. Wünsche, sagt er zu Friedrich Wünsche, als er ihm das Foto auf dem Display zeigt, und Karatsch zwischen ihnen beiden leise schnarcht, Wünsche ist ein seltsamer Name, oder? Unten auf der Straße laufen vier Mädchen in kurzen Schottenröcken vorbei, lachen und haben es gut miteinander. Seltsamer wäre es, wenn ich Sehnsucht heißen würde, sagt Wünsche, ich finde meinen Namen gar nicht so schlecht. Wünsche kann man im Kopf formulieren, meistens auch konkret. Würde ich Sehnsucht heißen, wer weiß, ich wäre ganz anderen Gefühlszuständen ausgeliefert.
Oder stellen Sie sich vor, Sie würden Kummer heißen, sagt Jo.
Da kenne ich zwei, die so heißen.
Und?
Die sind glücklich verheiratet, im Gegensatz zu anderen Leuten, sagt Friedrich Wünsche und schaut den Mädchen mit den Schottenröcken hinterher.
Du kannst ruhig du zu mir sagen, Jo.
Waren Sie eigentlich mal in Mutter verliebt?
Ich, sagt er, und in dem Moment bremst der Bus scharf. Karatsch wacht auf.
Später steigen sie am Sloane Square aus und gehen auf einen Kaffee ins Kaufhaus Peter Jones. Chelsea im Panoramablick bis rüber zu den Hyde Park Barracks, verspricht
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