Wünsche
Kinder und sehr befreundet waren, hat Vera nie bei den Wünsches schlafen dürfen.
9 : 25. Vera steht auf, wickelt sich in eine Wolldecke und geht hinunter in die erste Etage. Als sie die Tür zu Mutter Marthas Schlafzimmer öffnet, riecht es nach ungelüfteter Süßwarenhandlung im Hochsommer. Meret liegt ausgebreitet auf dem Doppelbett und prustet im Schlaf wie ein Nilpferd.
Kurz vor Mitternacht hat Vera gestern gegen die Schaufensterscheibe von Haus Wünsche geklopft, hinter der eine Frau mit dem Rücken zur Straße saß und nähte. WIR DEKORIEREN , stand auf dem Fenster daneben. Dahinter standen ein paar alberne Schafe herum, geschoren bis auf das nackte Styropor, und sahen mit glotzenden Glasaugen Vera dabei zu, wie sie versuchte, die nähende Frau im anderen Fenster auf sich aufmerksam zu machen. Die Frau trug einen marineblauen Hosenanzug mit akkuraten weißen Steppnähten, so ein Modell für sehr fortgeschrittene Schneiderinnen mit sehr ruhiger Hand. Merets Hand, hatte Vera gedacht, und klopfte wieder. Endlich schaute Meret von dem ebenfalls marineblauen Kleid unter ihrer Nadel hoch. Das Gesicht ein Schrei mit geschlossenem Mund.
Jetzt gibt Meret auf dem Doppelbett kleine, wohlige Schluchzer von sich. Wahrscheinlich hat sie später am Abend allein auf das Wiedersehen getrunken. Ihr Gesicht ist verändert, aber doch ihr altes Gesicht. Helga war früher. Wie hieß noch mal der Imbissstand? Kneidls Brutzelbude? Vera schaut unter das Doppelbett von Mutter Martha. Eine Kaffeetasse, innen braun wie eine ungeputzte Kloschüssel, ein angeschlagener flacher Teller aus der Serie Maria Weiß mit einem Rest Spiegelei und einem braunen Apfelschnitz darauf, mehrere Gläser, ein Öffner für Wein, einer für Bierflaschen, Deoroller, Handcreme und ein paar Ohrstöpsel, die einmal rosa waren.
Meret prustet noch einmal laut, richtet sich auf und starrt zu Vera in der Tür, ohne ein Zeichen des Erkennens. Ihr Blick ist glasig und unscharf.
Und jetzt hör endlich auf, mir türhoch zu erscheinen, du Scheiß-Madonna, sagt sie, bevor ihr Oberkörper zurückplumpst auf die Matratze.
Wieso bist du eigentlich zurückgekommen, he? Doch nur, um mich zu ärgern, hat Meret gestern Abend gesagt, als sie das Bett in Friedrichs altem Zimmer für Vera frisch bezogen haben. Gern hätte Vera da Merets Hand gedrückt. Wäre Meret nicht gewesen, sie hätte nicht gewusst, wie nah zwei Menschen einander sein können. Näher, als es möglich oder erlaubt ist. Sie sind gemeinsam ins Ballett gegangen, und Mädchen, die ins Ballett gehen, sehen eh aus, als seien sie aus der gleichen Familie. Sie haben zusammen die erste Zigarette geraucht und am gleichen Tag zum ersten Mal eine fremde Zunge im Mund gehabt, vom gleichen Jungen. Sie haben sich bei Einbruch der Dunkelheit auf den gleichen Spielplätzen herumgetrieben und einen Sommer lang in der Bauruine beim Fußballplatz wie ein Paar gelebt. Ganze Tage verbrachten sie in den leeren Räumen wie in Träumen. Gleich hinter der Bauruine war die Stadt zu Ende. Eine letzte Siedlung noch, dann kam die Autobahn. Hand in Hand haben sie die Samstagnachmittage, in die schon die Langeweile des Sonntags hineinschwappte, beim Autobahnkreuz verbracht. Sie stellten sich auf die Brücke über der A1. Selbstmörderbrücke, sagte Meret. Am Rand der Autobahn standen die giftigen Wunderkerzen. Sie winkten den Autos, die unter ihren Röcken hindurchfuhren, und zählten kreischend die, die zurückwinkten. Himmel und Erde federten über und unter ihnen hinweg, wenn sie danach zurück in die Stadt gingen. Ja, an ihren guten Tagen waren sie zwei Spatzen oben auf einer Telefonleitung gewesen, durch die angenehme Gespräche liefen.
Vera hat Meret gestern Abend das Kopfkissen weggenommen, das schief geknöpft war, und endlich doch ihre Hand gehalten. Für einen Moment, aber heftig und dramatisch. So wie früher.
Schon gut, hat Meret gesagt. Vera hat die Hand losgelassen, und sie waren wieder getrennt.
Vorbei an den Cocktailsesseln in der Diele und vorbei am Speiseaufzug geht Vera in die Küche, die früher das Reich von Stilti Knalles war. Sie wickelt die Wolldecke höher, bevor sie eines der beiden Fenster öffnet. Da liegt der Park. Wo der Hauptweg den Knick macht, steht die Nackte aus Bronze am Teich und trägt einen gelben BH . Um sie herum auf dem Wiesenrondell drängeln sich Holzstühle und Bierbänke. Vera lässt das Fenster offen und setzt sich an den Küchentisch. Was Kennedy jetzt wohl macht? Sie hat ihn
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